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Hundertundeinunddreißigster Brief.
Rhedi an Rica in Paris.

Unter allem, was bei meiner Ankunft in Europa mein Interesse erregte, steht die Geschichte und der Ursprung der Republiken in erster Linie. Du weißt, daß die meisten Asiaten nicht einmal eine Vorstellung von dieser Staatsform haben, und daß ihre Einbildungskraft nicht soweit gereicht hat, ihnen begreiflich zu machen, daß auf Erden eine andere als die Despotie möglich sei.

Die ältesten Staaten der Welt waren monarchisch regiert; Rousseau spricht von dem König Adam und dem Kaiser Noah, dem Vater von drei großen Monarchen, die das Erdreich unter sich teilten, wie die Söhne des Saturn thaten, die man in ihnen zu erkennen geglaubt hat. (Contrat social, I, 2) Republiken entstanden nur zufällig und im Laufe der Jahrhunderte.

Nachdem Griechenland durch eine große Flut überschwemmt worden war, wurde es von neuen Einwohnern bevölkert. Fast alle Ansiedlungen der letzteren gingen von Ägypten und den nächsten asiatischen Nachbarländern Kekrops, der sagenhafte Gründer von Athen, soll ebenso wie Danaos, der nach Argolis einwanderte, aus Ägypten, Kadmos, der Gründer von Theben, aus Phönicien, Pelops aus Phrygien gekommen sein. Doch wird die orientalische Abstammung der Griechen neuerdings vielfach angefochten. aus; und da diese unter der Regierung von Königen standen, so behielten die Völker, welche denselben entstammten, die nämliche Regierungsform bei. Als aber die Tyrannei dieser Fürsten zu drückend wurde, schüttelte man ihr Joch ab, und auf den Trümmern so vieler Königreiche erhoben sich alle jene Republiken, unter denen Griechenland, allein gesittet mitten unter Barbaren, so herrlich emporblühte.

Die Liebe zur Freiheit, der Haß gegen die Könige erhielten Griechenland lange in seiner Unabhängigkeit und gaben der republikanischen Staatsform eine weite Verbreitung. Die griechischen Städte fanden Verbündete in Kleinasien; sie entsandten dahin Kolonien, die ebenso frei waren wie sie selbst; und diese dienten ihnen als Schutzwehr gegen die Eroberungsgelüste der Könige von Persien. Aber Griechenland that noch mehr; es bevölkerte auch Italien; Italien, Spanien und vielleicht sogar Gallien. Es ist bekannt, daß jenes große, bei den Alten so berühmte Hesperien im Anfang Griechenland war, welches seine Nachbarn als die Heimat der Glückseligkeit betrachteten. Die Griechen fanden dies glückliche Land nicht bei sich daheim und suchten es in Italien; die italienischen Völker hofften es in Spanien zu finden, die spanischen in Bätica oder Portugal; und so kommt es, daß alle diese Gegenden bei den Alten jenen Namen führten. Die griechischen Kolonien bewährten den Geist der Freiheit, welcher ihnen im milden Mutterlande zur Natur geworden war. Daher trifft man in jenen fernen Zeiten in Italien, Spanien und Gallien gar keine Monarchien. Ich werde Dir sogleich zeigen, daß die Volksstämme im Norden und in Deutschland nicht minder frei waren; und wenn man Spuren eines Königtums bei ihnen zu entdecken glaubt, so erklärt sich dies daraus, daß man die Heerführer oder die Häupter der Republiken für Könige gehalten hat.

Alles dies sind europäische Ereignisse; denn Asien und Afrika haben stets die Last des Despotismus getragen, mit Ausnahme einiger schon erwähnten Städte in Kleinasien und der Republik Carthago in Afrika.

Dann kam die Zeit, wo die ganze Welt unter zwei mächtige Republiken, Rom und Carthago, geteilt war. Nichts ist so bekannt wie die Anfänge der römischen Republik, nichts so dunkel wie die Urgeschichte von Carthago. Man weiß durchaus nichts über die afrikanischen Fürsten, die nach Dido auf den Thron kamen, noch wie sie ihre Macht verloren. Das wunderbare Anwachsen der römischen Republik würde für die Welt ein großes Glück gewesen ein, hätte nicht jener ungerechte Unterschied zwischen den römischen Bürgern und den besiegten Völkern bestanden; wären die Statthalter der Provinzen mit einer weniger schrankenlosen Gewalt bekleidet gewesen; wären jene heiligen Gesetze, die ihre Tyrannei verhindern sollten, strenger beobachtet worden; und hätten sie nicht, um dieselben zum Schweigen zu bringen, sich der Schätze bedient, welche die Frucht ihrer Ungerechtigkeit waren.

Die Freiheit scheint für den Geist der europäischen und die Knechtschaft für den Geist der asiatischen Völker geschaffen zu sein. Vergebens boten die Römer den Cappadociern diesen kostbaren Schatz: diese feige Nation wies ihn zurück und warf sich der Knechtschaft so begierig in die Arme, wie die übrigen Völker nach der Freiheit strebten.

Cäsar wurde der Unterdrücker der römischen Republik, indem er sie der Willkürherrschaft unterwarf.

Lange seufzte Europa unter dem Drucke eines gewaltthätigen Militarismus, und die römische Milde verwandelte sich in grausame Tyrannei.

Indessen kamen zahllose unbekannte Nationen aus dem Norden herangezogen, ergossen sich wie Ströme über die römischen Provinzen und, da sie das Erobern so leicht fanden wie das Plündern, zerstückelten sie und machten Königreiche daraus. Diese Völker waren frei und beschränkten die Macht ihrer Könige so sehr, daß diese eigentlich nur Häuptlinge oder Heerführer waren. Obwohl durchs Waffengewalt gegründet, empfanden diese Königreiche das Joch des Siegers nicht als einen Druck. Als die asiatischen Völkerschaften, wie die Türken und Tartaren, Eroberungen machten, dachten sie nur daran, dem einzigen, dessen Willen sie unterworfen waren, neue Unterthanen zu gewinnen und seine Gewaltherrschaft mit den Waffen in der Hand zu begründen; als sich hingegen die nordischen Völker, die in ihrer Heimat frei gewesen waren, der römischen Provinzen bemächtigten, verstatteten sie ihren Führern keinen großen Einfluß. »Die Völker des Nordens von Europa haben es als freie Männer erobert; die Völker des Nordens von Asien eroberten es als Sklaven und siegten nur für einen Herrn.« (»Geist der Gesetze«, XVII, 5.) »Es sind moralische Eigenschaften, denen man die Eroberungen der Nordländer zuschreiben muß,« sagt Helvetius (Oeuvres, II, pg. 224). Einige dieser Stämme, wie die Vandalen in Afrika und die Gothen in Spanien, setzten sogar ihre Könige ab, sobald sie mit ihnen unzufrieden waren; und bei den andren war die fürstliche Macht auf tausenderlei Art beschränkt. Viele Große nahmen daran teil; sie mußten ihre Einwilligung geben, ehe ein Krieg unternommen werden durfte; die Beute wurde zwischen dem Anführer und den Soldaten geteilt; es gab keine Steuern zu Gunsten des Fürsten; die Gesetze wurden in allgemeinen Volksversammlungen gegeben. Dies war die Grundlage der Verfassung aller jener Staaten, die sich auf den Trümmern des römischen Reiches erhoben.

Venedig, am 20. des Mondes Rhegeb, 1719.



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