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Fünfundsiebzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Offen gestanden, ich vermisse bei den Christen jene lebenskräftige Gewißheit in Sachen der Religion, wie man sie bei den Muselmännern antrifft; es ist gar weit bei ihnen vom Bekenntnis zum Glauben, vom Glauben zur Überzeugung, von der Überzeugung zur Ausübung. Die Religion dient ihnen nicht sowohl zur Heiligung, als vielmehr zu einem Thema ewigen Streits für jedermann. Höflinge, Soldaten, ja selbst die Weiber bestürmen die Geistlichen mit Widerspruch und verlangen von ihnen Beweise für das, was sie doch ihr Lebtage nicht glauben wollen. Es leiten sie jedoch hierbei keine zwingenden Vernunftgründe; auch haben sie sich nicht die Mühe genommen, die Religion, welche sie verwerfen, nach ihrer Wahrheit oder Unwahrheit zu prüfen; sie sind einfach Rebellen, die das Joch gespürt und es abgeschüttelt haben, Nach seiner Rückkehr aus London giebt Montesquieu von dem dortigen religiösen Zustande eine ähnliche Schilderung: »In England ist die Religion tot. Spricht man einmal von Religion, fängt alles an zu lachen.« (Goblet d'Alviella, L'Evolution religieuse contemporaine, pg. 184.) ehe sie es noch recht kannten. Darum stehen sie auch nicht fester im Unglauben, als im Glauben; sie leben in beständigem Wechsel von Ebbe und Flut, die sie bald zu diesem, bald zu jenem treibt. Solcher Mensch äußerte einmal zu mir: »Ich glaube nur periodenweise an die Unsterblichkeit der Seele; meine Ansichten hängen ganz und gar von meinem körperlichen Befinden ab. Je nachdem ich frisch oder ermüdet bin, gut oder schlecht verdaue, reine oder unreine Luft einatme, leichte oder schwere Speisen genieße: je nachdem bin ich Spinozist, Socinianer, Katholik, Atheist oder bußfertig. Wenn der Arzt vor meinem Bette steht, findet mich der Beichtvater, wie er mich haben will. Solange ich mich wohl befinde, weiß ich schon zu verhindern, daß die Religion mir beschwerlich falle; aber bin ich krank, so mag sie mich immerhin trösten. Habe ich von der Welt nichts mehr zu hoffen, und die Religion kommt mit ihren Verheißungen, so will ich mich ihr gern hingeben und in Hoffnung sterben.«

Schon vor langer Zeit haben die christlichen Fürsten alle Sklaven in ihren Staaten freigegeben; denn, sagten sie, das Christentum macht alle Menschen gleich. Über das allmähliche Schwinden der Sklaverei vergl. Lecky (History of Rationalism, II. 236 ff.). Mit Recht giebt er dem Christentum die Ehre, die ihm Montesquieu hier vorurteilsvoll schmälert; er sagt: »Allein das Christentum vermochte die tiefe Charakterumwandlung hervorzubringen, welche die Abschaffung der Sklaverei ermöglichte.« Allerdings war ihnen diese religiöse That sehr nützlich; sie bändigten dadurch den Adel, dem sie seine Macht über das niedere Volk entzogen. Als sie jedoch später Länder erobert hatten, in welchen es ihnen noch nützlicher schien, Sklaven zu halten, haben sie jenes Grundsatzes ihrer Religion, der ihnen vorher so am Herzen gelegen, vergessen und den Sklavenhandel wieder erlaubt. Aber was soll ich dazu sagen? Heute Wahrheit, morgen Irrtum! Warum machen wir es nicht wie die Christen? Wir sind sehr einfältig, auf Ansiedlungen und mühelose Eroberungen unter glücklichen Himmelsstrichen zu verzichten, Strodtmann bemerkt, daß Venedig im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in beständiger Feindschaft mit den Türken lebte, die ihm Cypern und Candia wegnahmen und selbst bis an die Lagunen vordrangen. – Vergl. auch Brief 31. weil das Wasser daselbst für die Waschungen, welche der heilige Koran uns vorschreibt, nicht rein genug ist. Die Muhamedaner haben keine Lust, Venedig zu erobern, weil sie daselbst für ihre gesetzlichen Reinigungen kein frischer Wasser finden würden.

Ich danke dem allmächtigen Gott, welcher seinen großen Propheten Ali in die Welt gesandt hat, daß ich mich zu einer Religion bekenne, die erhaben über menschlicher Selbstsucht und rein wie der Himmel ist, dem sie entstammt.

Paris, am 13. des Mondes Saphar, 1715.



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