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Hundertundfünfunddreißigster Brief.
Rica an denselben.

Zur festgesetzten Stunde fand ich mich wieder in der Bibliothek ein, und mein Führer vom gestrigen Tage kehrte mit mir an den Ort zurück, wo wir uns verlassen hatten. »Hier stehen die Grammatiker, die Glossatoren und die Kommentatoren,« sagte er. – »Ehrwürdiger Vater,« warf ich ein, »alle diese Leute können wohl ganz gut ohne gesunden Menschenverstand fertig werden?« – »Freilich können sie das,« erwiderte er; »auch ist er in ihren Werken nicht anzutreffen, und dieselben sind darum nicht schlechter. Das ist sehr bequem für sie.« – »Allerdings,« versetzte ich, »und ich kenne viele Philosophen, welche wohl daran thun würden, sich auf diese Wissenschaften zu verlegen.«

»In der folgenden Abteilung,« fuhr er fort, »sehen Sie die Redner, die das Talent besitzen, ihre Hörer gegen ihr besseres Wissen zu überzeugen und weiterhin die Mathematiker, welche jedermann zur Überzeugung zwingen und eine logische Tyrannei auf ihn ausüben.

Diese Fächer hier enthalten die Bücher über Metaphysik, welche so große Fragen behandeln, und in denen man überall dem Unendlichen begegnet. Dann folgen die Schriften aus dem Gebiete der Physik, die in der Einrichtung des weiten Weltalls nicht mehr Wunderbares erblicken, als in dem einfachsten Gerät unserer Handwerker. Nun kommt die Arzneiwissenschaft, lauter Denkmäler für die Hinfälligkeit der Natur und die Macht der Kunst, die uns erbeben machen, selbst wenn sie von den leichtesten Krankheiten handeln, so sehr vergegenwärtigen sie uns den Tod; aber wenn sie die Kraft der Heilmittel beschreiben, so versetzen sie uns in ein solches Gefühl völliger Sicherheit, als wären wir unsterblich geworden.

Gleich daneben befinden sich die anatomischen Werke, die weit weniger eine Beschreibung der Teile des menschlichen Körpers als die barbarischen Namen enthalten, welche man denselben gegeben hat. Dadurch wird weder der Kranke von seinem Leiden noch der Arzt von seiner Unwissenheit geheilt.

Die Chemie, die Sie in den nächsten Abteilungen aufgestellt finden, ist bald in den Hospitälern, bald in den Tollhäusern daheim; denn beide sind gleich angemessen zu ihrem Aufenthalt.

Was Sie in jenem Schrank dort erblicken, sind Bücher über die Geheimwissenschaft oder vielmehr Unwissenheit. Zu ihnen gehören diejenigen, welche diese oder jene Teufelskunst lehren; den meisten Leuten gelten sie als verdammungswert; bei mir können sie indessen nur Mitleiden erregen. Zu dieser Klasse gehören ferner auch die Schriften über Sterndeutekunst.« Comte hat den Gedanken ausgesprochen, das Studium der Astrologie sei der erste systematische Versuch gewesen, durch den Nachweis des Gesetzmäßigen im scheinbar Zufälligen der menschlichen Handlungen eine Philosophie der Geschichte zu konstruieren. Bodin wirft in dem größten staatswissenschaftlichen Werke des sechzehnten Jahrhunderts (République, liv. IV, 2) die Frage auf, ob sich ein Prinzip finden lasse, nach welchem die Gesellschaft sich entwickle, und kommt zu dem Schlusse, dies Prinzip könne nur durch die Astrologie erkannt werden. (Vergl. Lecky, Hist. of Rationalism I, 277.) Daß bei uns noch jetzt Überreste dieser Lehre vorhanden sind, beweist der Volksglaube, der in Kometen und Nordlichtern die Verboten von Kriegen erblickt.

»Was sagen Sie da, ehrwürdiger Vater? Die Schriften über Sterndeutekunst?« fiel ich ihm lebhaft in die Rede. »Auf diese legen wir ja in Persien das allergrößte Gewicht. Sie bestimmen jede Handlung unsres Lebens und geben den Ausschlag bei allen unseren Unternehmungen. Die Sterndeuter sind unsre eigentlichen Lenker; ja, mehr als das, sie üben Einfluß auf die Regierung des Staates.«

»Wenn das der Fall ist,« entgegnete er, »so ist das Joch, unter welchem Sie leben, viel härter als das der Vernunft. Das nenne ich das seltsamste von allen Reichen. Ich beklage schon eine Familie, wieviel mehr also noch eine Nation, die den Planeten solche Macht über sich verstattet.«

»Wir bedienen uns der Astrologie,« gab ich ihm zur Antwort, »wie ihr euch der Algebra bedient. Jede Nation hat ihre besondere Wissenschaft, die sie zur Richtschnur ihrer Politik erwählt. Bei uns in Persien haben alle Sterndeuter zusammengenommen nicht so viele Dummheiten begangen wie hier ein einziger eurer Algebraiker. Dies bezieht sich auf Law's Finanzsystem. Ein Epigramm, das seine Rechenkunst verspottete, übertrug Weber folgendermaßen:
»Des großen Schotten sei gedacht,
Als Rechner hochzuschätzen,
Der Frankreich ins Spital gebracht
Nach er Algebra Sätzen.«
Vergl. Brief 138 und 142.
Halten Sie die zufälligen Constellationen der Gestirne nicht für einen ebenso sicheren Maßstab wie die schönen Schlußfolgerungen eures Systemmachers? Ließe man in Frankreich und in Persien darüber abstimmen, so würde die Astrologie einen herrlichen Triumph feiern, und die Mathematiker sollten eine gehörige Demütigung erfahren. Wie niederdrückend für sie würden die Schlüsse sein, die man daraus ziehen könnte!«

Hier wurden wir in unserer Erörterung unterbrochen und mußten uns für diesmal trennen.

Paris, am 26. des Mondes Rhamazan, 1719.



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