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Hundertundsechsunddreißigster Brief.
Rica an denselben.

Als wir uns das nächste Mal wiedersahen, führte mich mein Gelehrter in ein besonderes Gemach. »Dieser Raum,« erklärte er mir, »enthält die Bücher über neuere Geschichte. Hier die ersten sind die Geschichtschreiber der Kirche und der Päpste. Ich lese diese Werke zu meiner Erbauung; aber häufig bewirken sie gerade das Gegenteil in mir.

Die folgenden sind Schriften über den Verfall des furchtbaren römischen Reiches, das sich aus den Trümmern so vieler Monarchien gebildet hatte, und aus dessen Sturz so viele neue hervorgingen. Eine Unzahl von barbarischen Völkern, ebenso unbekannt wie die Länder, in denen sie daheim waren, erschienen plötzlich auf dem Plan, überschwemmten, verwüsteten und zerstückelten das Weltreich und plünderten alle die Staaten, die Sie noch jetzt in Europa finden. Diese Völkerschaften waren keine Barbaren im eigentlichen Sinne; denn sie waren frei; aber die meisten von ihnen sind es mit der Zeit geworden, seitdem sie unter dem Drucke einer unbeschränkten Gewaltherrschaft jene süße Freiheit eingebüßt haben, die der Vernunft, der Menschlichkeit und der Natur so gemäß ist. Ein prägnanter Ausdruck für Montesquieu's damalige republikanische Gesinnung, und eine Ergänzung zum 131. Briefe.

Hier sehen Sie die Geschichtschreiber von Deutschland, welches jetzt nur noch ein Schatten des ehemaligen Reiches ist. Indessen halte ich es für die einzige Macht auf Erden, welche durch Zersplitterung nicht schwächer geworden, ja für die einzige, die im Verhältnis ihrer Verluste an Stärke zunimmt und, obwohl sie lässig in der Verwertung ihrer Vorteile ist, durch ihre Niederlagen unüberwindlich wird. Dies war die Zeit Friedrich Wilhelms I., ein Jahr nach dem Tode des Schwedenkönigs und dem Ende des Türkenkrieges.

Jene dort sind die Werke über französische Geschichte. In Frankreich sieht man gleich zu Anfang die Bildung einer königlichen Macht; dann fällt sie zweimal, erhebt sich ebenso oft wieder und schleppt sich darauf während mehrerer Jahrhunderte matt dahin. Aber nach und nach gewinnt sie wieder Kraft, dehnt sich allseitig aus und erreicht ihren höchsten Glanz. Sie gleicht jenen Strömen, die während ihres Laufes ihre Wasser verlieren oder weite Strecken unter der Erde verborgen dahinfließen, dann aber von neuem erscheinen, durch die Vereinigung mit andren Flüssen, die sich in sie ergießen, anschwellen und mit wilder Gewalt alles mit sich fortreißen, was sich ihnen hemmend entgegenstellt.

Weiterhin gelangen wir zu den Spaniern. Von den Gebirgen kommt diese Nation herab; ebenso unmerklich unterwirft sie die muhamedanischen Fürsten, wie diese einst selbst im Handumdrehen das Land erobert hatten. Eine Menge von Königreichen vereinen sich zu einer gewaltigen Monarchie, und diese wird fast die einzige auf Erden, bis sie, von ihrem Scheinreichtum Roscher meint, der große Reichtum unter Ferdinand und Isabella sowie in der früheren Zeit Karls V. sei nur eine fable convenue, und erinnert an Karls V. Worte: »Frankreich hat an allem Überfluß und Spanien Mangel an allem.« (Grundl. der Nat. $ 54, 1.) zu Boden gedrückt, ihre Kraft und selbst ihren Ruhm verliert und nur noch den Stolz auf ihre frühere Macht bewahrt.

Hier stehen wir vor den Geschichtschreibern Englands, wo man die Freiheit wieder und wieder aus den Flammen der Zwietracht und des Aufstandes hervorgehen sieht. Stets schwankt der Fürst auf einem unerschütterlichen Thron; die Nation ist ungeduldig; aber selbst in der Leidenschaft erhält sie sich den kalten Verstand, und, die Beherrscherin der Meere, vereinigt sie, was bis dahin unerhört gewesen, Handel und Herrschaft. Schvarcz (a. a. O. 714 ff.) erörtert zu dieser Stelle, eine völlige Unkenntnis von den Einrichtungen und dem gesunden Staatsleben der Engländer sei die Ursache, daß sie von Montesquieu persiflirt werden. Dies scheint uns doch zu hart; denn das englische Staatsleben war sicherlich schwer erkrankt, als die Amputation des Jahres 1649 erfolgte, und der vertriebene Jakob II. war erst 1701 in St. Germain gestorben; kein Wunder, daß Ausländer am Schein haften blieben; denn das historische Material war damals noch nicht wie heut gesichtet. Jedenfalls lernte Montesquieu später die Verfassung der Engländer würdigen.

Nebenan sind die Geschichtschreiber jener andren Königin des Meeres aufgestellt, der holländischen Republik, die in Europa so angesehen und in Asien so gefürchtet ist, wo ihren Kaufleuten so viele Könige zu Füßen liegen.

Die Historiker von Italien berichten Ihnen von einer Nation, welche ehedem die Gebieterin der Welt war, aber heutzutage die Sklavin aller übrigen ist. Ihre Fürsten sind uneinig und schwach, und das einzige Attribut ihrer fürstlichen Macht ist eine eitle Politik.

Nunmehr sind wir bei den Geschichtschreibern der Republiken angelangt, als da sind: die Schweiz, das Bild der Freiheit; Venedig, dessen Hilfsquellen nur in seiner Verwaltung bestehen; und Genua, das einzig durch seine Schiffe bedeutend ist.

Schließlich sehen Sie hier die Geschichtswerke über die nordischen Reiche, unter andren über Polen, welches von seiner Freiheit und von seinem Rechte der Königswahl einen so schlechten Gebrauch macht, als wolle es seine Nachbarvölker, welche beides verloren haben, über diesen Verlust trösten.« Damals regierte August der Starke; aber der Wahlkönig war kaum mehr als der beschränkte Minister einer von Parteileidenschaften zerrissenen Adelsrepublik. Das wüste Treiben des Reichstags legte den Grund zu unsrer sprichwörtlichen Redensart »Polnische Wirtschaft«.

Hiermit schieden wir bis zum folgenden Tage.

Paris, am 2. des Mondes Chalval, 1719.



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