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Sechsundfünfzigster Brief.
Usbek an Ibben in Smyrna.

Das Spiel ist in Europa eine verbreitete Sitte; die Spieler bilden einen besonderen Stand, und wer ihm angehört, kann gute Herkunft, Vermögen und Rechtschaffenheit ganz gut entbehren und wird ungeprüft unter die achtbaren Leute gerechnet, obwohl jeder weiß, daß sich diese Schätzung oft als trügerisch erwiesen hat: man hält absichtlich seine Augen zu.

Besonders stark ist die Vorliebe der Frauen für dies Laster. Solange sie jung sind, ergeben sie sich demselben freilich meist nur zu Gunsten einer anderen Leidenschaft, die ihnen teurer ist; aber je älter sie werden, desto mehr scheint ihre Leidenschaft für das Spiel sich zu verjüngen, und diese erfüllt dann die ganze Leere, welche die übrigen scheidend zurückließen

Sie legen es darauf an, ihre Männer zu Grunde zu richten, und zu diesem Zwecke haben sie für jede Lebensstufe von der zartesten Jugend bis zum abgelebtesten Alter ein besonderes Mittel; mit Kleidern und Equipagen beginnen sie; ihre Koketterie thut das weitere, und das Spiel vollendet den Ruin.

Oft habe ich neun bis zehn Frauen oder vielmehr neun bis zehn Jahrhunderte um einen Tisch gruppiert gesehen; ich sah sie in ihrer Hoffnung, in ihrer Furcht, in ihrer Freude und vor allem in ihrer Wut. Du würdest geglaubt haben, daß ihre Zeit nicht mehr ausreichen werde, sich wieder zu beruhigen, und daß ihr Leben noch eher erlöschen müsse, als ihre Verzweiflung; Du würdest in Zweifel gewesen sein, ob die, an welche sie auszahlten, ihre Gläubiger oder ihre Erben waren.

Unser heiliger Prophet scheint hauptsächlich darauf bedacht gewesen zu sein, uns alles zu entziehen, wodurch unser Verstand verwirrt werden könnte. Er hat uns den Genuß des Weines verboten, welcher ihn umnachtet; er hat uns durch eine ausdrückliche Vorschrift die Hazardspiele untersagt; und wenn es ihm unmöglich war, die Ursache der Leidenschaften zu beseitigen, so hat er die letzteren gemildert. Die Liebe versetzt uns weder in Aufregung, noch in Raserei; sie ist eine stille Leidenschaft, bei der unsre Seele ihre Ruhe bewahrt. Die Vielweiberei erspart uns die Leiden der weiblichen Herrschsucht und mäßigt die Heftigkeit unserer Begierden.

Paris, am 10. des Mondes Zilhageh, 1714.



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