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Neunundfünfzigster Brief.
Rica an Usbek in ***.

In einem Hause, das ich neulich besuchte, fand ich eine Gesellschaft von allerlei Leuten. Bei meinem Eintritt führten zwei alte Frauen das Wort, die den ganzen Morgen vergeblich bemüht gewesen waren, sich zu verjüngen. »Man muß gestehen,« sagte die eine von ihnen, »daß heutzutage die Männer ganz anders sind, als die, mit welchen wir in unserer Jugend Umgang pflogen; die letzteren waren höflich, artig und gefällig; aber die jetzige Männerwelt finde ich unerträglich roh.« – »Alles ist anders geworden,« bestätigte ein Herr, den die Gicht zu plagen schien. »Die Zeit ist nicht mehr, wie sie früher war. Vor vierzig Jahren war jedermann bei guter Gesundheit; man tummelte sich, man war lustig und guter Dinge, man wollte nur lachen und tanzen; aber jetzt macht die ganze Welt ein verdrießliches Gesicht.« – Bald darauf kam man auf Politik zu sprechen. »Zum Henker,« rief ein alter Herr, »der Staat hat ja gar keine Regierung mehr! Wo gäbe es jetzt einen Minister, wie Herr Colbert Colbert, gest. 1683, war General-Kontroleur und verwaltete die unter Richelieu und Mazarin durch Betrug und Verschwendung zerrütteten Finanzen des Reiches mit solcher Weisheit, daß er die königlichen Einkünfte um beinahe dreißig Millionen Francs vermehrte. Er war ein einfacher, höchst bescheidener und arbeitsamer Mann. war? O, ich habe ihn gut gekannt, diesen Herrn Colbert; er war ein Freund von mir; er ließ mir meine Pension immer vor jedem andern auszahlen. Ja, damals, da waren die Finanzen in trefflicher Ordnung, und alle Welt befand sich wohl dabei. Aber heute bin ich ruiniert.« – »Mein Herr,« sagte darauf ein Geistlicher, »Sie erwähnen da die wundervollste Periode im Leben unseres unüberwindlichen Monarchen; was giebt es größeres, als den Schlag, den er damals führte, um die Ketzerei zu vernichten?« – »Und rechnen Sie die Abschaffung des Duells Vergl. über das Duell den 91. Brief. »Die Unterdrückung dieses falschen Ehrbegriffes in einem so eitlen und lebhaften Volk wie die Franzosen wird verdientermaßen als eine der ruhmvollsten Thaten ihres gegenwärtigen Königs betrachtet.« (Addison, Spectator, 99, 1711.) für nichts?« rief mit zufriedenem Gesicht ein anderer, der vorher geschwiegen hatte. – »Das ist eine gescheite Bemerkung,« flüsterte mir jemand ins Ohr. »Dieser Mann ist entzückt über das Verbot; er beobachtet es so gewissenhaft, daß er, um nicht dagegen zu verstoßen, sich vor sechs Monaten hundert Stockprügel schweigend gefallen ließ.«

Es scheint mir, Usbek, daß wir über nichts zu urteilen vermögen, ohne unbewußt von uns auf die Dinge zu schließen. Diese Ansicht erinnert an die Lehre des Protagoras: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« (Diogenes Laertius, Vitae philos. IX, 51.) Ich finde es gar nicht überraschend, daß die Neger den Teufel blendend weiß und ihre Götter kohlschwarz malen, daß die Venus gewisser Völker Brüste hat, die ihr bis auf die Schenkel herabhängen, überhaupt, daß alle Götzendiener ihre Gottheiten in menschlicher Gestalt darstellen und sie mit allen ihren eigenen Neigungen ausstatten. Man hat sehr witzig gesagt: Wenn die Dreiecke sich einen Gott machen wollten, so würden sie ihm drei Seiten geben. Wie einer ist, so ist sein Gott;
D'rum ward auch Gott so oft zum Spott.«

Goethe.

Schopenhauer sagt: »Der Anthropomorphismus ist eine dem Theismus durchaus wesentliche Eigenschaft.« (Parerga, I, 126 fg.)

Mein lieber Usbek, wenn ich sehe, wie Menschen auf einem Atom, d. h. auf dieser Erde, die nur ein Punkt im Weltall ist, herumkriechen und sich dabei geradezu als die Modelle der Vorsehung aufspielen, so ist es mir ein Rätsel, wie so viel Überhebung mit solcher Nichtigkeit bestehen kann.

Paris, am 14. des Mondes Saphar, 1714.



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