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Fünfundneunzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Ich habe noch niemals vom Staatsrecht Montesquieu schreibt in diesem und im folgenden Briefe stets droit public (welches, ebenso wie droit commun oder civil, das gemeine bürgerliche Recht bezeichnet) anstatt droit des gens oder droit international ( Völkerrecht), was er in der That meint. Schvarcz (a. a. O.) will in dieser Verwechselung ein Zeichen seiner mangelhaften staatswissenschaftlichen Studien erblicken. reden hören, ohne daß man damit begonnen hätte, den Ursprung der Gesellschaft In seinem »Contrat social« hat Rousseau den Ursprung der Gesellschaft untersucht, und Brizard sagt, indem Montesquieu nur von den positiven Gesetzen gesprochen, habe er sein Gebäude unvollendet gelassen; der »Contrat social« sei die Eingangshalle des Tempels, und das erste Kapitel des »Esprit des lois«. sorgfältig zu untersuchen. Das finde ich lächerlich. Bildeten die Menschen keine Gesellschaft, trennten sie sich, und flüchtete einer vor dem anderen, so müßte man nach dem Grunde dieser Absonderung forschen. Aber von ihrer Geburt sind sie alle mit einander verbunden; ein Sohn wird bei seinem Vater geboren und hält sich zu ihm: das ist die Gesellschaft und ihre Ursache.

In Europa ist das Staatsrecht besser bekannt, als in Asien; man kann indessen sagen, daß die Leidenschaften der Fürsten, die Geduld der Völker und die Schmeichelei der Schriftsteller alle Grundsätze desselben untergraben haben.

In seiner heutigen Form ist dies Recht eine Wissenschaft, aus der die Fürsten lernen, wie weit sie der Gerechtigkeit Gewalt anthun können, ohne ihre eigenen Interessen zu gefährden. Welch ein Unternehmen, Rhedi! Um ihr Gewissen zu verhärten, bringen sie die Ungerechtigkeit in ein System, aus dessen Grundsätzen sie alsdann nach den Regeln der Wissenschaft ihre Folgerungen ziehen!

Die unumschränkte Gewalt unserer erhabenen Sultane, die nur sich selbst als Richtschnur anerkennt, bringt keine größeren Ungeheuerlichkeiten hervor, als diese unwürdige Kunst, welche die Gerechtigkeit drehen und deuteln will, so unwandelbar dieselbe auch ist.

Man möchte fast meinen, Rhedi, es gebe zwei ganz verschiedene Arten von Gerechtigkeit: eine, welche Privat-Angelegenheiten ordnet und im bürgerlichen Rechte herrscht; und eine andre, welche die Streitigkeiten der Völker schlichtet und im Staatsrechte ihre Tyrannei ausübt; gleich als wäre das Staatsrecht nicht selbst ein bürgerliches Recht, freilich nicht eines einzelnen Landes, sondern der Welt.

Ich werde Dir meine Gedanken über diesen Gegenstand in einem folgenden Briefe noch deutlicher erklären.

Paris, am 1. des Mondes Zilhageh, 1716.



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