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Hundertundfünfter Brief.
Usbek an denselben.

Nicht alle europäischen Völker stehen in dem nämlichen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Fürsten. So läßt z. B. der ungeduldige Charakter der Engländer ihrem König keine Zeit, seinem Ansehen größeren Nachdruck zu geben; auf die Tugenden der Unterwürfigkeit und des Gehorsams ist ihr Ehrgeiz am wenigsten gerichtet. Sie haben höchst seltsame Ansichten über diese Dinge. Nach ihrer Meinung ist nur ein Band imstande, die Menschen aneinander zu fesseln, nämlich die Dankbarkeit; Mann und Weib, Vater und Sohn sind nur durch ihre gegenseitige Liebe oder durch die Wohlthaten, die sie einander erweisen, verbunden; und die verschiedenen Veranlassungen der Erkenntlichkeit sind der Ursprung aller Reiche und der ganzen Gesellschaft.

Wenn aber ein Fürst seine Unterthanen, anstatt sie glücklich zu machen, bedrücken und zu Grunde richten will, so wird ihrem Gehorsam die Grundlage entzogen; keine Bande fesseln sie mehr an ihn, und sie gewinnen ihre natürliche Freiheit wieder.

Sie behaupten ferner, daß keine unbegrenzte Macht gesetzmäßig sein könne, weil sie unmöglich einen gesetzmäßigen Ursprung gehabt habe. »Denn,« sagen sie, »wir können niemandem größere Macht über uns einräumen, als wir selbst besitzen; nun haben wir aber über uns selbst keine unbegrenzte Macht; z. B. können wir uns nicht das Leben nehmen. Daraus folgt,« schließen sie, »daß niemand auf Erden eine solche Macht hat.« Vergl. Milton's »Defence of the English People.« Das Majestätsverbrechen ist nach ihrer Ansicht nichts anderes, als das Verbrechen, welches der Schwächste gegen den Stärksten begeht, indem er ihm ungehorsam ist, auf welche Art sich dieser Ungehorsam auch äußern möge. Als daher das englische Volk einem seiner Fürsten gegenüber der stärkere Teil war, erklärte es denselben eines Majestätsverbrechens für schuldig, weil er gegen seine Unterthanen Krieg geführt hatte. Ganz mit Recht finden sie also das Gebot ihres Korans, nach welchem man der Obrigkeit unterthan sein soll, leicht zu befolgen; denn es ist ihnen eben unmöglich, es nicht zu befolgen, besonders da es nicht der Tugendhafteste, sondern der Stärkste ist, dem sie sich zu unterwerfen haben.

Nach einer Erzählung der Engländer soll einer ihrer Könige einen besiegten und gefangenen Fürsten, der gegen ihn aufgestanden war und ihm die Krone streitig gemacht hatte, wegen seiner Treulosigkeit und Verräterei mit Vorwürfen überhäuft haben. Der unglückliche Fürst aber habe erwidert: »Erst in diesem Augenblick hat es sich entschieden, wer von uns beiden der Verräter ist.«

Ein Thronräuber erklärt alle für Rebellen, welche nicht wie er das Vaterland unterdrückt haben; und in dem Glauben, es gebe kein Gesetz, wo er keine Richter sieht, fordert er, daß man die Launen des Zufalls und des Glückes wie Urteile des Himmels verehre.

Paris, am 20. des zweiten Mondes Rebiab, 1717.



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