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Einleitung des Übersetzers.

In den »Betrachtungen über die Ursachen der Größe der Römer und deren Verfall« besitzt die Universal-Bibliothek bereits eine von Montesquieus Schriften Montesquieu's Betrachtungen über die Ursachen der Größe der Römer und deren Verfall. Mit Erläuterungen und Berichtigungen deutsch herausgegeben von Robert Habs. Universal-Bibliothek, 1722, 1723.. Der Herausgeber, mein Freund Robert Habs, erwähnt in seiner biographischen Einleitung zu dem genannten Buche, auf welche ich die Leser des vorliegenden Werkes verweisen muß, daß er eine Übersetzung der »Persischen Briefe« für die Universal-Bibliothek vorbereite. Er hat jedoch diesen Plan nicht zur Ausführung gebracht, sondern die angekündigte Arbeit mit Bewilligung des Herrn Verlegers an mich abgetreten, wodurch ihr Erscheinen länger, als anfänglich beabsichtigt war, verzögert wurde. Es darf hier wohl erwähnt werden, daß ich sie bereits im Mai 1883 in New-York begonnen, dann auf einem Ozeandampfer und später in England weitergeführt und erst jetzt, nach längerer Unterbrechung durch andere Arbeiten, in Deutschland vollendet habe. Hiermit übergebe ich sie nun den Liebhabern der klassischen Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts.

Dies ist nicht die erste deutsche Übersetzung der »Persischen Briefe«. Bereits im Jahre 1759 war in Frankfurt und Leipzig eine anonyme Übertragung unter dem Titel »Des Herrn von Montesquiou Persianische Briefe« erschienen, und eine zweite verbesserte Auflage folgte 1760. Beide Ausgaben haben mir vorgelegen, die erste in der königl. öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart, die zweite in der Bibliothek des Britischen Museums zu London. Beide enthalten indessen nur 140 Briefe, wie die kastrierte, sogenannte zweite Ausgabe des französischen Originals, von der weiter unten die Rede sein wird, und sie tragen alle Fehler ihrer Zeit, in welcher dem Übersetzer nur geringe Hilfsmittel zu Gebote standen, während er zugleich mit einer noch ungeformten Sprache zu kämpfen hatte.

Im Jahre 1799 wurde sodann zu Wien eine deutsche Übersetzung von Montesquieu's sämtlichen Werken, und 1803 zu Landshut eine Übertragung der »Persischen Briefe« mit Erläuterungen von E. A. Michaelis veröffentlicht. Es ist mir jedoch nicht gelungen, der beiden letzteren habhaft zu werden.

Endlich folgte in der von Adolf Stern, dem verdienten Litterarhistoriker, herausgegebenen Bibliothek der Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts eine deutsche Übersetzung von Adolf Strodtmann (Berlin, 1866). Wie alle ihre Vorgänger ist auch sie im Buchhandel längst vergriffen, und gewiß beweist dies, daß das Bedürfnis einer neuen Ausgabe vorhanden ist. Dennoch trug ich anfänglich Bedenken, eine Arbeit, die ein so bewährter Übersetzer wie Strodtmann vor mir unternommen hatte, zu wiederholen. Ein genauer Vergleich seines Textes mit dem französischen Original mußte mich jedoch überzeugen, daß auch Strodtmanns Ausführung der Verbesserung noch fähig ist. Nicht nur hat er nach einer mangelhaften älteren Ausgabe gearbeitet, was durch die von den neueren abweichende Reihenfolge der Briefe 79 bis 129 bewiesen wird, sondern es finden sich auch durch das ganze Buch Auslassungen von mehr oder minder langen Perioden. Hierzu aber kommen noch zahlreiche auffallende Irrtümer in der Übertragung, die mit bei einem Meister wie Strodtmann um so überraschender waren, als der größere Teil des Buches von seinem vollendeten Geschmack und seiner Beherrschung der Sprache Zeugnis giebt. Und nicht immer sind solche Fehler durch die Solöcismen und Barbarismen, durch die Taciteische Dunkelheit, die Montesquieu's Stil oft verderben, zu erklären. Ich verehre Strodtmann zu hoch, als daß ich ihn durch die Erwähnung dieser Thatsache herabzusetzen wünschen könnte; sie hat wohl darin ihren Grund, daß der deutsche Berufsschriftsteller sich selten die Zeit nehmen darf, sich in solche Arbeiten liebevoll zu versenken und sie so zu feilen, daß sie den höchsten Ansprüchen genügen. Leider muß der Ringkampf, den die Quantität deutscher Litteraturerzeugnisse geschaffen hat, die Qualität nachteilig beeinflussen. Das Honorar eines Übersetzers wird nicht nach der Zeit bemessen, die er auf seine Arbeit verwendet, sondern nach der Anzahl der Bogen, die er liefert.Widmet er also, nachdem die Übersetzung oberflächlich fertig gestellt ist, noch vierzehn Tage einer sorgfältigen Überarbeitung, so geschieht dies auf seine eigenen Kosten; denn diese vierzehn Tage sind für andere Arbeit verloren. Man kann also sagen, je gewissenhafter der Übersetzer, desto geringer ist der materielle Ertrag seiner Thätigkeit; er muß sich mit dem idealen Honorar, dem eigenen Bewußtsein redlichen Strebens, begnügen. Darum ist leider die Übersetzungskunst in dieser Zeit zu einem Handwerk hinabgesunken, und man hat sie eine Seuche nennen dürfen.

Nicht als ein Sündenregister also, aber zum Beweise, daß diese neue Übersetzung nicht überflüssig ist, muß ich hier wenigstens einige von Strodtmanns Fehlern anführen. So übersetzt er tu n'as point de taches comme cet astre (wie die Sonne nämlich) durch: »wie jenes Gestirn bist du fleckenlos«, während es natürlich heißen muß: »Du hast keine Flecken, wie die Sonne sie hat«. Sur toutes les cheminées (auf allen Kaminen, nämlich auf den Simsen derselben in den Zimmern) lautet in seiner Übertragung »an allen Straßenecken«. Vue délicate (schwache Augen) verdeutscht er durch »schöne Aussicht«. Petites-maisons (Tollhaus) ist bei ihm durch »kleine Hütten« wiedergegeben. Elle se dérobait (sie stahl sich hinweg) bedeutet in seinem Text: »sie kleidete sich um«. Und so lassen sich wenigstens fünfzig sinnentstellende Irrtümer nachweisen, wodurch oft ganze Sätze unverständlich werden.

Trotzdem erkenne ich mit Vergnügen an, daß ich Strodtmann's Vorarbeit wesentliche Hilfe verdanke; denn ich glaube, es ist die Pflicht eines Übersetzers, in schwierigen Fällen bei seinen Vorgängern Rat zu suchen, und den habe ich bei Strodtmann oft gefunden.

Außer den genannten Übertragungen habe ich auch noch eine englische, von John Ozell, in der dritten Auflage von 1731 (London) benutzt. Sie enthält natürlich, wie die erste französische Ausgabe von 1721, nur 150 Briefe.

Ich will hier gleich erwähnen, daß die verschiedenen Ausgaben der Lettres persanes von einander abweichen, daß die einzelnen Herausgeber viele Mühe gehabt haben sich in diesem Labyrinth zurecht zu finden. In dem 1874 zu Paris erschienenen kritisch geordneten Verzeichnis Montesquieu. Bibliographie de ses oeuvres, par Louis Dangeau. Paris, 1874. werden vierundfünfzig Ausgaben angeführt, von denen einundzwanzig zu Lebzeiten des Verfassers publiziert wurden. Dabei sind die Gesamtausgaben der Werke und die Übersetzungen nicht mitgerechnet; auch ist in dieser Bibliographie eine sehr kostbare Velinausgabe von 1782 nicht erwähnt, von welcher nur vier Exemplare gedruckt wurden, deren eins sich im Besitze des Britischen Museums befindet.

Die Lettres persanes wurden zuerst im Jahre 1721 veröffentlicht. In diesem Jahre erschienen sechs verschiedene Auflagen. Da nur eine von ihnen, die zweite, auf dem Titel als eine spätere genannt ist, so sind die Bibliographen lange im Zweifel gewesen, welche von den fünf übrigen die erste war. Jetzt scheint es festzustehen, daß es eine von den beiden nominell in Köln erschienenen ist. Sie enthält, wie oben erwähnt, 150 Briefe; ebenso die übrigen, von denen drei Amsterdam als Druckort nennen.

Die zweite, gegen das Ende des Jahres 1721 herausgekommen, heißt »vom Verfasser durchgesehen, verbessert, vermindert und vermehrt«. Sie enthielt nur 140 Briefe. Es waren in ihr etwa zwölf von den früheren Briefen ausgelassen, sechs neue hinzugekommen und mehrere verändert, miteinander verschmolzen oder verstellt Diese letztere ist eine seltene Ausgabe und darf vielleicht als diejenige betrachtet werden, die Montesquieu für den Kardinal Fleury von allen bedenklichen Stellen befreit haben soll, um diesen, der die erste Auflage nicht gelesen hatte, dadurch zu täuschen und die Zustimmung desselben zu seiner Aufnahme in die Akademie zu erlangen. Dies ist wenigstens Voltaires Darstellung. Neuere Biographen bezweifeln dagegen, daß Montesquieu so zweideutig gehandelt haben sollte. Es ist zwar möglich, ja wahrscheinlich, daß er dem Kardinal die zweite Auflage überreicht hat; allein dies kann erst etwa im Jahre 1727 geschehen sein, da er erst 1728 in die Akademie aufgenommen wurde, von der er 1725 zurückgewiesen worden war. Und da die zweite Auflage schon 1721 erschien, so konnte er bei der Veränderung jenen trügerischen Zweck nicht im Auge haben; zumal da im Jahre 1721 der Kardinal Dubois noch lebte, und Fleury erst nach dem Tode des Regenten Minister wurde. Man könnte einwerfen, die Jahreszahl 1721 sei nur fingiert, und die Auflage sei in Wahrheit erst 1727 gedruckt; aber dem widerspricht die Bezeichnung »zweite Auflage« und die Angabe »vermindert und vermehrt«; hätte Montesquieu überhaupt eine Täuschung begehen wollen, so würde er nicht auf halbem Wege stehen geblieben sein, sondern die verdorbene Ausgabe als die erste präsentiert haben.

Nun ist es auffallend, daß nach den sechs Auflagen des ersten Jahres die siebente erst beinahe neun Jahre später (1729) erschien, nachdem Montesquieu bereits ein Jahr vorher Mitglied der Akademie geworden. Die Häufigkeit der spätern Auflagen widerspricht der Annahme, als wäre das Interesse des Publikums plötzlich erlahmt; vielmehr soll ein förmliches Verbot des Ministeriums die Ursache der langen Unterbrechung gewesen sein. Diese siebente Auflage wurde in Amsterdam ausgegeben und enthielt wieder nur 140 Briefe.

Die neuen Auflagen erscheinen nun bald in Amsterdam, bald in Köln; eine von 1761 trägt die Druckangabe »Amsterdam und Leipzig«; 1769 erschien eine in London; 1777 in Genf; 1786 in Amsterdam und Paris; erst 1795, als die Revolution des Ernstes müde war, griechische Kostüme und fleischfarbige Beinkleider Mode wurden, und man Bals à Victime veranstaltete, erst da erschien eine Auflage des leichtfertigen Buches in Paris allein (bei Didot). Im Jahre 1834 wurde auch eine in Stuttgart herausgegeben, die Dangeau in seiner Bibliographie nicht erwähnt.

Aber das Verwirrende liegt besonders in dem verschiedenen Inhalt der einzelnen Ausgaben; denn lange schwankt die Anzahl der Briefe in denselben zwischen 140 und 150, und dazu kommen noch Varianten im Text. Dann erschien endlich 1754, im Jahre vor Montesquieu's Tode, die Ausgabe letzter Hand. Sie enthält die gegenwärtige Zahl von 161 Briefen, d. h. 150 mit einem Supplement von 11 weiteren und einer neuen, »Einige Betrachtungen« überschriebenen Einleitung. Da aber diese maßgebliche Ausgabe zwar die Briefe der ersten und zweiten wieder aufgenommen, aber doch nicht den ganzen Text der ersten wieder hergestellt hat, so haben auch nach Montesquieu's Tode die Herausgeber noch beliebige Nachträge gemacht, sodaß auch die späteren Auflagen sowohl im Inhalt wie in der Reihenfolge der Briefe nicht übereinstimmen. Diejenige, welche 1761 in Amsterdam und Paris erschien, ist als die erste wirklich vollständige zu betrachten, indem sie die Briefe des Supplements von 1754 an den richtigen Stellen einfügte Dieser bauende König hat in der That den Kärrnern reichliche Arbeit gegeben.

Es heißt übrigens, daß sich auch jetzt noch ungedruckte »Persische Briefe« in La Brède, dem Stammgut Montesquieu's, befinden; doch soll der gegenwärtige Eigentümer den Forschern bisher jeden Einblick verweigert haben.

Eine wirklich in jedem Sinne befriedigende Ausgabe der sämtlichen Werke wurde erst in den Jahren 1875–79 zu Paris in sieben Bänden von Eduard Laboulaye veranstaltet. Die Lettres persanes aber hatten bereits im Jahre 1873 (Paris) in Andre Lefèvre einen Herausgeber gefunden, der seine Arbeit mit kritischer Meisterschaft durchführte. Diese vorzügliche, auch typographisch würdige Ausgabe hat mir bei der vorliegenden Übersetzung zu Grunde gelegen; ich habe sie aber gleichzeitig mit der Ausgabe von Collin de Plancy (Paris, 1828), mit der im Panthéon littéraire enthaltenen (Paris, 1837), und mit der bei Didot erschienenen (Paris, 1854) verglichen. Strodtmann scheint der von 1823 gefolgt zu sein.

Die Idee der »Persischen Briefe« war nicht völlig Montesquieu's Eigentum; denn schon im Jahre 1705 hatte Charles Rivière du Tresny in seinen Amusements sérieux et comiques einen Siamesen von seinem Standpunkte aus über Pariser Verhältnisse urteilen lassen. Im Jahre 1715 erschien dann in Paris der persische Pseudogesandte Riza Beg (siehe den 92. Brief und Anmerkung), und man darf wohl vermuten, daß damit für Montesquieu eine Anregung zu seinem Buche gegeben war; 1718 scheint er sich jedenfalls schon mit dem Plan desselben getragen zu haben. Da er den Orient aus eigner Anschauung nicht kannte, so mußte er die Sitten in den damals viel gelesenen, jetzt freilich veralteten Reisewerken von Chardin und Tavernier, die er auch im 72. Briefe erwähnt, studiert haben. Daneben schöpfte er wohl auch aus »Tausend und eine Nacht«, das von dem 1715 gestorbenen Galland ins Französische übersetzt war, sowie aus den Mémoirs du serail der Frau von Villedieu (gest. 1683). Von Deutschland aus war ja schon 1635-1639 die große holsteinische Gesandtschaftsreise nach Ispahan unternommen worden, an der sich Paul Fleming als Gesandtschaftsarzt und Adam Olearius als Sekretär beteiligten; aber es ist nicht wahrscheinlich, das Montesquieu die deutsche Beschreibung dieser Reise gekannt hat, die der letztere später veröffentlichte. Da des Verfassers Quellen so mangelhaft waren, würde man in dieser Schrift vergeblich ein korrektes Bild der persischen Sitten und des persischen Charakters suchen.

Was die Form des Buches anbetrifft, so kann es ein Roman in Briefen genannt werden, aber mit der Beschränkung, daß kaum ein Drittel der letzteren sich mit der Handlung des Romans beschäftigt. Nach dem Vorgange von Lefèvre haben wir dies Drittel in dem beigegebenen Inhaltsverzeichnisse besonders angemerkt; die betreffenden Briefe bilden gewissermaßen den Rahmen des Buches und stehen teils zu Anfang, teils am Ende desselben. Der Zeit nach erstrecken sie sich über mehr als neun Jahre, und ihr Thema ist der allmähliche Verfall eines Harems und die Eifersucht des abwesenden Gebieters, der sich aus Furcht vor der Kabale seiner Feinde freiwillig verbannt hat. Den Hauptinhalt des Buches bildet die Kritik, die er und sein jüngerer Freund, zwei vornehme Perser, während ihres Aufenthalts in Paris an den französischen Zuständen in den letzten Jahren der Regierung Ludwigs XIV. und zur Zeit der Regentschaft üben. Es war eine Periode, welche dieser Kritik überreichen Stoff bot; denn in ihr vereinten sich politischer Absolutismus, jesuitischer Fanatismus, wirtschaftlicher Ruin und tiefe Entsittlichung der Gesellschaft, um die Sündflut vorzubereiten, welche endlich mit der Revolution über das Land hereinbrach. Daß diese kommen mußte, wurde von scharfen Augen bereits zu Montesquieu's Lebzeiten erkannt; denn am Weihnachtstage 1753 schrieb sein Freund, Lord Chesterfield, die prophetischen Worte: ›In short, all the symptoms wichh have ever met with in history, previous to great changes and revolutions in government, now exist and daily increase in France.‹ Aus Montesquieu sprach das Gewissen der Menschheit, und er darf als einer der Ersten von denen betrachtet werden, die den Anbruch einer neuen Zeit verkündeten.

Eine entsittlichte Gesellschaft war es, der er in den »Persischen Briefen« den Spiegel vorhielt, und die er mit ihren eignen Waffen bekämpfte. Aber freilich, man vertreibt den Teufel nicht durch Beelzebub, und das Ernste, Revolutionäre dieser Schrift that erst spät seine Wirkung, während ihre Frivolität sie der verkommenen Zeit empfahl.

Selbst Voltaire, der doch gewiß nicht prüde war, hat sie ein frivoles Buch genannt. Milder spricht Goethe in einer Anmerkung zu »Rameau's Neffe« von ihrer »reizenden Sinnlichkeit«; aber wenn sie reizend war für eine überreizte Zeit, so ist sie es darum nicht für alle Zeiten. Nach meiner Ansicht liegt in dem modernen französischen Naturalismus, sei es in Flauberts »Madame Bovary« oder in »Nana«, dem abstoßendsten von Zola's Romanen, mehr Sittlichkeit als in den lüsternen Haremsgeschichten dieser »Persischen Briefe«, weil Montesquieu's Darstellung raffiniert ist. Bei Zola sind wir nicht im Zweifel, daß ihm das Häßliche wirklich als häßlich gilt; denn er verschönt es nicht, und wir fühlen vor Allem, daß es ihm mit der Wahrheit Ernst ist; er will die Natur und nur die Natur. Montesquieu dagegen ist wollüstig wie seine Zeit; er wirft auf das Häßlichste die schillernde Beleuchtung eines brillanten Stils und hebt es durch pointierte Schreibweise noch besonders hervor. Im hundertundelften Briefe sagt er, daß ein Feldherr nicht berechnender sein könne in der Aufstellung seiner Truppen, als es eine hübsche Französin mit ihren Schönpflästerchen ist, die allenfalls wegbleiben könnten, aber deren Effekt sie vorhersieht. Gerade so auf den Effekt berechnet wie diese Schönpflästerchen sind Montesquieu's Frivolitäten; er kokettiert mit ihnen, um den verdorbenen Geschmack einer entsittlichten Zeit zu kitzeln. Wir sind wahrlich nicht geneigt, die Rechte einer gesunden Sinnlichkeit zu leugnen; wir halten z. B. Walt Whitman, dessen Dichtungen das Evangelium der Sinnlichkeit predigen, für einen wirklich großen, hochsinnigen und liebenswerten Menschen; denn in ihm ist Alles Wahrheit und ursprüngliche Kraft. Aber schön ist nur die Natur; der prickelnde Reiz künstlicher Aufregung ist ein Zeichen der Korruption.

Man würde sehr im Irrtum sein, wenn man glauben wollte, Montesquieu habe diese Mittel nur angewandt, um die französischen Zustände zu persiflieren. Wenn man die Haremsgeschichten liest, so fühlt man, mit welchem Behagen sie geschrieben sind, und daß der Verfasser hier in seinem Element ist. Und durch Montesquieu's eigene Briefe sowie durch Vians von der Akademie preisgekrönte Biographie Histoire de Montesquieu, par Louis Vian. 2me éd. Paris, 1879. 8º. ist dies bis zur Evidenz erwiesen. Er hatte sich jung verheiratet; aber seine Frau, eine reiche Calvinistin, war sehr häßlich, und die Ehe erwies sich als eine unglückliche; er jedoch wußte sich so gründlich zu entschädigen, daß Julius Schvarcz von ihm sagen kann, es sei nun eine dokumentarisch beglaubigte Thatsache, daß er den aphrodisischen Sport, die Jagd auf Damen, berufsmäßig betrieb. Und so sind trotz ihrer räumlich geringeren Ausdehnung die wollüstigen Schilderungen aus dem Serail ihrem Verfasser gewiß eben so wichtig gewesen wie irgend ein anderer in dem Buche behandelter Gegenstand; seinen zeitgenössischen Lesern aber galten sie unzweifelhaft als die Hauptsache. Der Regent und seine Anhänger waren von diesem Buche entzückt, und so die ganze französische Gesellschaft; denn »wo wir im Kot uns fanden, da verstanden wir uns gleich«. Als eine Sensationsschrift in jedem Sinne verdankten die »Persischen Briefe« ihren Erfolg nicht sowohl dem Ernste; ihrer Kritik, durch den der Verfasser sich über seine Zeit erhob, sondern der glänzenden Darstellung des Lasters, durch die er seine Sympathie mit der krankhaften Genußsucht einer verkommenen Epoche bekundete.

Und wiewohl Schvarcz in seinem kürzlich über die »Persischen Briefe« veröffentlichten Aufsatz Montesquieu's Erziehung zum Verfassungspolitiker. Von Julius Schvarcz. ( In der Tübinger Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1884, 3. und 4. Heft). in manchen Stücken zu hart gegen Montesquieu ist, kann man ihm wenigstens teilweise zustimmen, wenn er von dem Buche äußert, es sei »nicht sowohl die verschleierte Tendenzschrift eines zielbewußt reformfreundlichen Publizisten, als vielmehr das romanesk gekleidete Tisch-Jarion eines sehr belesenen aphrodisischen Sportsmans, der seine Stimme gelegentlich wohl auch über bedeutende Zeitfragen vernehmen läßt«. Es muß aber dagegen bemerkt werden, das man andrerseits gerade betont hat, wie z. B. Sala, er sei ›a rational reformer, not mere persifleur or frondeur‹ gewesen.

Adolf Stern macht in seiner biographischen Einleitung die Bemerkung, daß über Montesquieu's Schriften preisende Urteile im Umlauf seien, welche deutlich verraten, daß ihr Inhalt gegenüber der allgemeinen Geltung ihrer Titel so gut wie unbekannt ist. Das ist richtig; und daraus erklärt es sich, daß seine historische Bedeutung, die sehr groß war, zum Maßstabe seiner Bedeutung für die Gegenwart dient, die nur noch gering ist. Als ein historisches Denkmal haben wir auch die »Persischen Briefe« wieder übersetzt, nicht als eine für unsere Zeit maßgebliche Richtschnur für die Beurteilung sozialpolitischer Zustände. Auch von ihnen gilt, was ein bekannter Staatsmann Karl Braun-Wiesbaden: »Rudolf Ihering«. (Nord und Süd, Juni 1884). unlängst über Montesquieu's Hauptwerk geschrieben hat: »Ich glaube, daß man das Werk von Montesquieu, welches für seine Zeit einen großen relativen Wert hatte, in Betreff seines absoluten, d. h. für alle Zeiten maßgebenden wissenschaftlichen Wertes sehr überschätzt hat, – und noch überschätzt, – auch abgesehen davon, daß man es fortwährend falsch citiert und ihm Worte und Phrasen unterschiebt, die gar nicht darin stehen, wie dies noch 1870 Napoleon dem Dritten (oder seinem Concipienten) passiert ist, als er zum Kriege schritt. Das Werk von Montesquieu enthält neben einer Anzahl guter Gedanken und glänzender Aperçüs einen entsetzlichen Ballast veralteter Anekdoten und höchst unzuverlässiger und unwissenschaftlicher Notizen.«

Eine Reaktion gegen die frühere Verherrlichung des Verfassers der »Persischen Briefe« hat sich denn auch in letzter Zeit sehr bemerkbar – gemacht, am stärksten wohl in der oben citierten Abhandlung von Schvarcz Die Franzosen freilich schreiben fast immer im Panegyrikus-Stil von ihm, wenn man etwa (neben den vorsichtigen Äußerungen seines Freundes Helvetius) die beiden Polemiken seiner Zeitgenossen ausnimmt, die in der Feindschaft gegen ihn einig waren, wiewohl sie aus ganz entgegengesetzten Lagern kamen. Ich meine die Kritik des Geistlichen Les Lettres persanes convaincues d'impiété, par l'abbé Gaultier, 1751. und Voltaire's Angriffe. So vermißt man besonders in in dem Éloge de Montesquieu von Villemain die Nüchternheit. Das hohe Lob, welches ihm Michelet spendet, läßt man sich lieber gefallen, weil es sich nicht sowohl auf seine wissenschaftliche wie auf seine soziale Bedeutung bezieht, die ungemein groß war. Doch davon werden wir weiter unten zu reden haben.

Das Ausland hat ihn kritischer beurteilt, besonders hinsichtlich der großen Mängel seines Stils. Meinem Freunde Habs, der von dem letzteren sagt, daß er sich in seiner Knappheit und Klarheit am besten mit dem unseres Lessing vergleichen lasse, vermag ich nur teilweise zuzustimmen; in der Knappheit sind beide Stile sich ähnlich, aber in der Klarheit nicht. Lessing ist durchsichtig, weil er natürlich ist; Einfachheit in Denken und Ausdruck ist sein Charakter. Aber gerade diese Einfachheit des Gedankens und daher auch der Form fehlt dem Stil Montesquieu's. Bei Lessing ist die Kürze wirklich der kürzeste Wegs vom Gedanken zum Wort; bei Montesquieu ist sie nur auf dem langen Wege der Künstelei erreicht. Ich will zum Belege meiner Ansicht hier das Urteil eines kompetenten englischen Kritikers, Macaulays Critical and Historical Essays. London, 1877, pag. 48. (Macchiavelli. March, 1827). By Lord Macaulay. übersetzen:

»Montesquieu erfreut sich vielleicht einer weiter reichenden Berühmtheit als irgend ein andrer politischer Schriftsteller des modernen Europa. Etwas davon verdankt er ohne Zweifel seinem Verdienst, aber viel mehr der Gunst seines Schicksals. Er hatte das Glück eines Valentin. Er fesselte die Blicke der französischen Nation in dem Augenblicke, als sie aus dem langen Schlafe politischer und religiöser Bigotterie erwachte; und infolge davon wurde er ihr Liebling. Die Engländer jener Zeit sahen in einem Franzosen, der von konstitutionellen Beschränkungen und Fundamental-Gesetzen redete, eine nicht minder erstaunliche Merkwürdigkeit, als in dem gelehrten Schwein oder dem musikalischen Kind. Durch den Schein bestechend, aber seicht, nach Effekt haschend, gleichgültig gegen die Wahrheit, begierig, ein System zu bauen, aber unbekümmert um das Sammeln jener Materialien, aus welchen allein ein gesundes und dauerhaftes System gebaut werden kann, schuf der lebhafte Präsident Theorien so schnell und so leicht wie Kartenhäuser, kaum entworfen und schon vollendet, kaum vollendet und schon umgeblasen, kaum umgeblasen und schon vergessen. Macchiavelli irrt nur, weil seine unter höchst eigentümlichen gesellschaftlichen Zuständen gewonnene Erfahrung ihn nicht immer befähigen konnte, die Wirkung von Einrichtungen zu berechnen, die von denen verschieden waren, deren Wirksamkeit er beobachtet hatte. Montesquieu irrt, weil er eine glänzende Bemerkung zu machen hat und entschlossen ist, sie um jeden Preis zu äußern. Passen die Erscheinungen, die er vor sich sieht, nicht zu seinen Absichten, so muß die ganze Weltgeschichte durchwühlt werden. Kann Nichts, was durch authentisches Zeugnis festgestellt ist, gestreckt oder behauen werden, bis es mit seiner Prokrusteischen Hypothese übereinstimmt, so begnügt er sich mit irgend einem ungeheuerlichen Märchen über Siam oder Bantam oder Japan, von Schriftstellern erzählt, im Vergleich mit welchen Lucian und Gulliver wahrheitsliebend waren, von Lügnern aus zwiefachem Grunde, als Reisende und als Jesuiten.

Klares Denken findet sich gewöhnlich mit angemessener Darstellung beisammen. Dunkelheit und Geziertheit sind die beiden größten Fehler des Stils. Dunkelheit des Ausdrucks entspringt im allgemeinen aus Verwirrung der Gedankens und der Wunsch, um jeden Preis zu blenden, durch den die Manier eines Schriftstellers geziert wird, verleitet ihn naturgemäß auch zu sophistischen Urteilen. Macchiavelli's verständiger und aufrichtiger Sinn zeigt sich in seiner lichtvollen, männlichen und durchgebildeten Sprache. Montesquieu's Stil dagegen giebt auf jeder Seite Zeugnis von einem lebhaften und scharfsinnigen, aber ungesunden Geiste. Jeder Kunstgriff in der Ausdrucksweise, von der geheimnisvollen Kürze eines Orakels bis zu dem Redeflusse eines Pariser Gecken, kommt zur Anwendung, um bald die Trüglichkeit, bald die Plattheit einer Behauptung zu verbergen. Abgeschmacktheiten werden zu Epigrammen verklärt, Gemeinplätze zu Rätseln verdunkelt.Auch das beste Auge vermag nur schwer den Glanz zu ertragen, welcher einige Teile erleuchtet, oder den Schatten zu durchdringen, in welchem andere versteckt sind.«

Aber wir wollen nicht länger bei Montesquieu's Fehlern verweilen, zumal wir seine hauptsächlichsten Irrtümer im Kommentar zu den einzelnen Briefen nachgewiesen haben, sondern untersuchen, durch welche Eigenschaften das vorliegende Buch trotz seiner großen Schattenseiten von der höchsten kulturhistorischen Bedeutung gewesen ist. Wir werden dann erkennen, daß es verdient, auch heut noch mit lebhafter Teilnahme gelesen zu werden, und daß es Charakterzüge enthält, durch die seinem Verfasser für immer ein würdiger Platz im Kreise der Vorkämpfer der Humanität gesichert ist.

Was war Montesquieu eigentlich? Auf welchem Felde der Wissenschaft hat er sich hauptsächlich bethätigt? Er war ein Schöngeist! sagt Schvarcz. Gewiß, es war etwas vom Schöngeist in ihm, und er würde das sicherlich gern selbst zugestanden haben; wie hätte er sonst die romanhafte Form für seine Lettres persanes wählen, wie den Temple de Guide schreiben können? Aber das ist keine neue Bemerkung; denn sie findet sich bereits bei Diderot, und gerade gegen sie verteidigt ihn Goethe. Die Frage ist: War er nur ein Schöngeist? Und wenn wir sie bejahen wollten, so würden wir damit nicht nur ihm selbst, sondern einem ganzen Jahrhundert, auf das er nachhaltig gewirkt hat, das Urteil sprechen. »Selten, vielleicht nie hat ein Schriftsteller so tiefen, so allgemeinen Einfluß erlangt, wie Montesquieu«, heißt es bei Benedey Jakob Benedey: »Macciavel, Montesquieu, Rousseau«. Berlin, 1859. I, Seite 171.. »Er wurde der Mann seines Jahrhunderts; er sprach in den Gesetzen, die er lehrte, Gefühle, Bedürfnisse, Notwendigkeiten aus, die alle Welt und besonders die denkenden Männer seines Volkes bereits seit Langem geahnt hatten, die er aber zum Bewußtsein brachte. Das ist die Ursache, warum alle Stände, alle Klassen Frankreichs ins Besondere ihm zufielen, und warum seine Ansichten, von dem Augenblicke, daß sein ›Geist der Gesetze‹ erschien, bis auf die heutige Stunde, in dem Labyrinthe der Geschichte Frankreichs zu einem ununterbrochen fortlaufenden Faden geworden sind.« Das also ist bedingungslos zuzugeben, daß er in der That mehr war, als ein bloßer Schöngeist. Aber schwanken dürfte man, ob man ihn einen Geschichtsphilosophen oder Lehrer der Staatswissenschaft nennen soll; und ich glaube, daß er Beides ist, und daß nur die, welche seinen Anspruch bekämpfen, ausschließlich als das Letztere betrachtet zu werden, in den Irrtum geraten, ihm die Wissenschaftlichkeit überhaupt abzusprechen. Der Philosoph ist nicht immer mit positiven Verhältnissen beschäftigt; er kann es nicht vermeiden, mit seiner Spekulation zweifelhafte Gebiete zu betreten; und Spezialisten, die immer nur das sichre Fundament solider Thatsachen unter ihren Füßen haben, glauben über den spekulirenden Denker manchmal verächtlich aburteilen zu dürfen. Aber das ist eine Verkennung seiner wahren Bedeutung. Montesquieu ist wie Herder ein Geschichtsphilosoph, nur daß der letztere mehr von allgemein menschlichen, der erstere mehr von staatsbürgerlichen Gesichtspunkten ausgeht. Es wäre ungerecht, die praktische Brauchbarkeit seiner Werke von dem Standpunkte zu beurteilen, von welchem man über ein Lehrbuch der Staatswissenschaft für Studenten urteilt.

Der Hauptgegenstand seiner Schriften ist also die philosophische Betrachtung der Gesetze. Und zwar nicht nur im Esprit des lois, sondern schon in den Lettres persanes. In der That, obwohl das Ergebnis seines Hauptwerkes in politischer Hinsicht von dem seines Erstlingswerks verschieden ist, indem dies in der Republik, jenes in der konstitutionellen Monarchie die beste Staatsform erkennt, sind doch die wesentlichen Grundzüge des Esprit des lois schon in den »Persischen Briefen« enthalten. Der Nachweis dieser Thatsache ist in einer interessanten Schrift geführt worden, die Collin de Plancy den Lettres persanes seiner Ausgabe der Werke Montesquieu's (Paris, 1823) als Anhang beigegeben hat Les Lettres persanes conférées avec l'Esprit des Lois, in: La politique de Montesquieu. Paris, 1820.. Die betreffende Arbeit ist die Entwickelung eines schon von d'Alembert im ›Éloge de Montesquieu‹ ausgesprochenen Gedankens. Leider fehlt es uns hier an Raum, um auf dieselbe näher einzugehen, und wir müssen es bei der Bemerkung bewenden lassen, daß ihr Verfasser für sämtliche einunddreißig Bücher des Esprit des lois Grundlagen in den einzelnen »Persischen Briefen« gefunden hat. Jedenfalls ist es kaum statthaft, die letzteren und ihre Bedeutung gesondert zu betrachten, da sie gewissermaßen die Prolegomena zu Montesquieu's Hauptwerk bilden.

Doch möge man diesen Ausdruck nicht mißverstehen. Wir dürfen Prolegomena in ihnen erblicken; aber der Verfasser selbst wußte zur Zeit, als er sie schrieb, noch nicht, was ihnen folgen würde; darum sprach er darin alles aus, was er damals auf dem Herzen hatte, und die Mannigfaltigkeit der in ihnen verarbeiteten Gegenstände ist weit größer, als die der Stoffe, welche er im »Geist der Gesetze« behandelt. In der That, wer diese leichtgeschürzten, koketten Tändeleien nur oberflächlich betrachtet, ahnt nicht, welche Fülle der Probleme sie zur Sprache bringen; es sind nur wenige Gebiete des Wissens, in die sie nicht irgend einen kecken Griff thun. Freilich, so konnte es auch nicht fehlen, daß sie Irrtum über Irrtum begingen, und man kann nicht umhin, hier und da eine Anmaßung in den absprechenden Urteilen dieses nach seinem Temperament radikalen Schriftstellers zu erblicken, der über Vieles redet, was er nach Wissen und Charakter nicht versteht. Und mit seiner Jugend läßt sich das nicht einmal entschuldigen; denn mit zweiunddreißig Jahren pflegt der Kopf im allgemeinen schon kühler geworden zu sein. Aber entschuldigen, ja mehr als entschuldigen, rechtfertigen läßt es sich mit der Zeit, in der die »Persischen Briefe« geschrieben wurden; sie war so verdorben nach allen Richtungen, daß ein Geist, der überhaupt kritisch angelegt war, sich wohl geneigt fühlen durfte, anstatt der einzelnen Glieder, die alle krank waren, dem siechen Körper mit seinem kritischen Messer lieber gleich das Herz auszuschneiden. Wenn wir also die Verhältnisse betrachten, so können wir immerhin zugeben, daß Montesquieu Maß gehalten hat.

Robert Habs nennt die Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts eine »mehr philosophische als artistische«. Für Deutschland, dessen poetische Wiedergeburt in das achtzehnte Jahrhundert fällt, dürfte dies nicht zutreffend sein, um so mehr aber für Frankreich. Und dort waren die »Persischen Briefe« das erste Buch der großen philosophischen Bewegung, die mit dem tastenden Deismus begann und mit dem Materialismus, der Negation des Geistes, endete. Auch bei Montesquieu findet sich schon ein materialistischer Vorgeschmack; aber er ist sich noch nicht klar, und er wagt auch noch nicht sehr weit im philosophischen Radikalismus zu gehen; denn zu jener Zeit war, wie Benedey bemerkt, die Anklage als Ketzer und Gottesleugner »noch die gefährlichste, die es geben konnte; denn die Bastille bestrafte noch unverurteilt diejenigen, an denen diese Anklage haften blieb«. Aber zu diesem Extrem war Montesquieu wohl nicht geneigt; ein Deismus, wie ihn auch Voltaire bekannte, war ihm genügend. Überhaupt hat er mit Voltaire sehr viel Verwandtes in seinen Bestrebungen, alte Vorurteile zu besiegen, Vernunft und Humanität zur Geltung zu bringen, Licht und Recht zu verbreiten; und sehr richtig sagt George Augustus Sala, Encyclopaedia Britannica, Art. Montesquieu. es sei gerade dieser Vorgang Montesquieu's auf Voltaire's eignem Specialgebiet, der diesen so eifersüchtig auf den ersteren machte. Traurige Wahrheit, da diese Verwandtschaft die beiden Männer doch viel mehr in Sympathie hätte verbinden müssen!

Wenn wir von der Romanform absehen, die den »Persischen Briefen« als Rahmen dient, so bleiben noch drei Hauptgesichtspunkte übrig, unter denen sie zu betrachten sind.

Unter dem ersten finden wir in ihnen einen höchst bemerkenswerten Versuch einer vergleichenden Völkerpsychologie. Da des Verfassers Kenntnisse von persischen Verhältnissen mangelhaft waren, so konnte er nicht das höchste Ziel eines wissenschaftlichen Ethnologen erreichen; aber immerhin ist die Parallele, die er zwischen orientalischen und abendländischen Sitten zieht, höchst lehrreich und durchaus geeignet, den Geist, der ihnen zu Grunde liegt, verständlicher zu machen.

Von den andren beiden Teilen ist der eine destruktiv, negativ, der andre konstruktiv, ein Aufbau positiv wissenschaftlicher Theorien. Betrachten wir zuvor den ersteren.

Dieser destruktive Teil ist insofern der Hauptteil, als man nach ihm das Buch in der Litteraturgeschichte klassifiziert. Er ist die Kritik der damaligen französischen Zustände, eine Parodie derselben, eine Satire auf sie; und »Satire« ist eben überhaupt der Gattungsname dieser »Persischen Briefe«. Weil sie aber zuerst und vor allem eine Satire sind, war es ganz überflüssig, daß Schvarcz so emphatisch dagegen protestierte, daß z. B. die Troglodytenepisode für eine staatswissenschaftlich-zurechnungsfähige Diatribe angesehen würde. Schvarcz behandelt das ganze Buch, als ob es Anspruch darauf machte, als reifes staatswissenschaftliches System zu gelten; aber wann hat Montesquieu solche Überschätzung gefordert? Für die Überschwänglichkeiten seiner späteren Panegyriker darf er nicht verantwortlich gemacht werden. Überhaupt aber scheint es uns, als beurteile Schvarcz diese Schrift von einem ganz falschen Standpunkte, nicht nur indem er sie nach dem Maßstabe eines streng wissenschaftlichen Werkes bemißt, sondern indem er sie gesondert kritisiert und den Verfasser gewissermaßen tadelt, daß er nicht sofort fertig gewesen ist, sondern sich allmählich entwickelt und in seinem Erstlingswerke große Unreife bekundet hat. Aber selbst unter Anerkennung der Fehler des späteren Hauptwerkes wäre es undankbar und ungroßmütig, jetzt, wo wir in vielen Stücken uns von Montesquieu's Theorien entfernt haben, ihn zu verachten; denn die Litteraturgeschichte fragt hauptsächlich, welchen belebenden Anstoß ein Schriftsteller gegeben hat; sie darf neben dem absoluten Werte eines Wertes seinen historischen nicht vergessen. Und Montesquieu hat auf seine Zeit und weit darüber hinaus einen großen und segensreichen Einfluß geübt; wer aber »den Besten seiner Zeit genug gethan, der hat gelebt für alle Zeiten.«

Von den Zuständen, welche in dem satirischen Teil gegeißelt werden, ist vor allen Dingen die absolute Monarchie zu nennen. Daran schließen sich die ökonomischen Verhältnisse des schwer heimgesuchten Volkes, besonders der haarsträubende Schwindel des Law'schen Finanzsystems. Die ungesunden sozialen Verwicklungen, die Herrschaft der Glücksritter und Abenteurer, die Laster der Gesellschaft wie die großen und kleinen Thorheiten eines eitlen, wetterwendischen Volkes gehen nicht leer aus. Das Elend, welches die Folge der ungeheuerlichen Entsittlichung der Regentschaft ist, wird mit einem Pathos dargestellt, das im 146. Briefe wahrhaft ergreifende Töne findet und ein schönes Zeugnis für den moralischen Mut des Verfassers bildet. Besonders stark angegriffen wird die Herrschaft der Jesuiten, die religiöse Intoleranz, die sie gegen die Protestanten ausgeübt, das Ungesunde des Mönchswesens (der christlichen Eunuchen) überhaupt; und es bleibt nicht bei einer Bekämpfung der Institutionen und der Ausschreitungen des Systems, sondern durch eine, wenn auch nicht einschneidende, so doch immerhin aggressive Kritik der theologischen Lehrsätze selbst, zwischen deren Zeilen sich mehr lesen läßt, als sie ausspricht, wird den Bäumen die Axt an die Wurzel gelegt; und wenn das Dasein Gottes nicht geleugnet ist, so wird es doch wenigstens bezweifelt, indem es einem »Wenn« unterliegt. Für die historische Bedeutung und die ethische Tiefe des Christentums zeigt Montesquieu kein Verständnis. Endlich wird auch die Wissenschaft und die Litteratur in ihren verschiedenen Zweigen durch eine etwas übermütige Satire hart mitgenommen.

Die positiven Elemente des Buches finden sich vor allen Dingen in den rein historischen Betrachtungen. Dahin gehört die lange, wissenschaftlich gehaltene, wenn auch irrtümliche Untersuchung über die Abnahme der Bevölkerung. Sodann die Gegenüberstellung eigener Grundsätze gegen das, was des Verfassers Satire bekämpft hat. Auf religiösem Gebiete fordert er Toleranz und erachtet die Mehrheit religiöser Determinationen in einem Staate sogar für nützlich. An die Stelle der Religion des Dogmas setzt er eine gewisse natürliche Religion, abgeleitet aus dem Gerechtigkeitssinne, den er für angeboren hält. Endlich zeichnet er die Grundzüge einer Staatswissenschaft, die nach einer Vergleichung der verschiedenen Regierungsformen der »milden Regierung« den Vorzug giebt, d. h. unter den damals bestehenden Verfassungen sich für die republikanische der Schweiz und der Niederlande entscheidet, an deren Stelle später im Esprit des lois die konstitutionelle Monarchie nach englischem Muster trat. Er ist für Milde in strafrechtlicher Beziehung, wodurch er auf Beccaria befruchtend wirkte. Er fordert die Gerechtigkeit als leitendes Princip des Völkerrechts; selbst das Recht zum Kriege ist danach zu beurteilen.

Von verschiedenen Seiten ist das spätere Hauptwerk als ein Rückschritt gegen die »Persischen Briefe« betrachtet worden. So sagt auch Scherr Johannes Scherr, Allgem. Gesch. der Litteratur, 3. Aufl. 1869, II, Seite 218.: »Der Geist der Gesetze mit seinen Definitionen der drei politischen Grundformen, Republik, konstitutionelle (temperierte) Monarchie und Despotie, unter welchen sich Montesquieu, von der englischen Verfassung bestochen, für die zweite entscheidet, ist der Koran des Liberalismus, das Evangelium der Besitzenden, welches die politische Nichtberechtigung der Besitzlosen zum Princip macht, und aus dem dann das Geldregiment der Bourgeoisie mit Notwendigkeit folgt. Die beste Kritik der Illusion des Konstitutionalismus, dessen positiver Grundsatz bekanntlich in der Trennung der drei Gewalten: Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtspflege besteht, enthält eine Äußerung Montesquieu's aus früheren Jahren (in den persischen Briefen) derzufolge die konstitutionelle Monarchie ein bloß erkünstelter und darum unhaltbarer Zustand ist, welcher entweder in die Despotie oder in die Republik übergehen muß, weil die Macht niemals gleichmäßig zwischen Volk und Fürst geteilt sein kann und das Gleichgewicht zwischen beiden um der unüberwindlichen Schwierigkeit seiner Bewahrung willen, stets nur ein chimärisches sein wird.«

Es kann nicht unsre Aufgabe sein, in dieser schwierigen Frage hier eine Entscheidung zu versuchen; doch glauben wir, daß keine lebensfähige Verfassung sich aus abstrakten Begriffen konstruieren läßt, sondern daß ihre jeweilige Form von der historischen Entwickelung der Verhältnisse bedingt ist. Man kann als Idealist in der Theorie für absolute Freiheit und Gleichheit sein, aus Grundsätzen allgemeiner Gerechtigkeit; aber wenn man durch die Erfahrung belehrt wird, daß ein auf priori hingestellten Gleichheitsprincipien basiertes System den unwissenden und urteilslosen Massen das Übergewicht über die denkende Minorität giebt, und daß der Massensieg brutaler Leidenschaft über die Weisheit zur Aristokratie führt, so wird man nicht vorschnell den resignierten Vermittlungsstandpunkt des Konstitutionalismus verlassen wollen. Einer nüchternen, ehrlichen Betrachtung wird der Staat mit seinen notwendigen Beschränkungen schwerlich als ein Idealzustand erscheinen, wohl aber, so lange die Barbarei nicht überwunden ist, als der nützliche »Maulkorb«, als welchen ihn Schopenhauer bezeichnet hat. Es muß jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, daß Montesquieu's System, auf Verhältnisse übertragen, denen es nicht angemessen war, zu schweren Konflikten führen mußte, wie Ueberweg Geschichte der Philosophie, 5. Aufl. 1876, Bd. III, Seite 140. mit Recht bemerkt. Aber Montesquieu redet auch keineswegs gewaltsamen Anpassungen das Wort, sondern wo es sich um gesetzlich bestehende Einrichtungen handelt, zeigt er sich wahrhaft konservativ und betont mit feierlicher Nachdrücklichkeit die Heiligkeit der Gesetze.

Er war ein Vorläufer der Revolution, aber kein unbesonnen revolutionärer, sondern trotz seines Radikalismus ein im Grunde seines Wesens loyaler Schriftsteller. Hat er, wie von ihm gesagt worden ist, in seinem kleinen Roman das Credo von 1789 entworfen, so geschah es, weil er das Recht wollte in einer Zeit, in der die Ungerechtigkeit triumphierte. Seine Stimme ist von um so höherer Bedeutung, weil sie in einer solchen Zeit ertönte; diese lustigen Briefe waren Worte eines Propheten, waren eine sittliche That, ein Blitz, der leuchtend in die Nacht eines verkommenen Zeitalters fuhr. Sie zeigten, was auch an Theorien darin ausgesetzt werden mag, daß Montesquieu's Herz auf dem rechten Flecke war; sie offenbarten seine Humanität, seine Menschenliebe, seine Toleranz, mit der er seiner Zeit weit vorauseilte; sie offenbarten vor allem, daß er die Gerechtigkeit erstrebte; und als einen Vorkämpfer der Gerechtigkeit wird die Litteraturgeschichte bis in die fernsten Zeiten ihn ehren; denn Gerechtigkeit ist die Losung der sozialen Entwicklung.

Stuttgart, am 30. November 1884.

Eduard Bertz.


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