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Neunzigster Brief.
Usbek an Ibben in Smyrna

Die Ruhmsucht ist nichts andres, als der Instinkt der Selbsterhaltung, welcher allen Geschöpfen eigen ist. Unser Wesen scheint sich auszudehnen, wenn es von dem Gedächtnis andrer Menschen Besitz nimmt; wir gewinnen dadurch ein neues Leben und betrachten es als ein ebenso köstliches Gut wie das, welches uns der Himmel verliehen hat. »Wer vertauscht nicht gern Gesundheit, Ruhe und Leben gegen Ehre und Ruhm, die nutzloseste, eitelste und falscheste Münze, die uns zu Gebote steht?« (Montaigne, Essais, I, 38.)

Aber wie die Liebe zum Leben nicht in allen Menschen gleich stark ist, so streben sie auch nicht alle mit gleichem Verlangen nach dem Ruhme. Zwar ist diese edle Leidenschaft ihrem Herzen immer tief eingeprägt; aber Einbildungskraft und Erziehung beschränken sie auf tausenderlei Weise.

Dieser Unterschied zwischen Mensch und Mensch ist zwischen Volk und Volk noch auffallender.

Man kann den Grundsatz aufstellen, daß in jedem Staate die Ruhmbegierde sich mit der Freiheit der Unterthanen vermehrt oder vermindert; niemals bestehen Ruhm und Knechtschaft mit einander. Dieser Brief zeigt, wie »la gloire« auch damals schon das Steckenpferd der Franzosen war. Schvarcz bemerkt (a. a. O. S. 722): »Die Intensität der Sehnsucht nach Kriegsruhm mit dem Grade der Freiheit in ein gerades Verhältnis bringen zu wollen, konnte nur einem Schöngeiste einfallen, dem das Staats- und Volksleben Englands, der Niederlande, Norwegens und der Schweiz völlig unbekannt war.« In der That beweisen zeitgenössische Äußerungen, mit welcher Verachtung die Engländer Ludwigs XIV. Ruhmsucht beurteilten, so ein Artikel von Steele vom Jahre 1711 (Spectator, 139), wo ein Vergleich zwischen dem französischen Monarchen und Peter dem Großen aufgestellt wird, der sehr zum Nachteil des ersteren ausfällt.

Ein kluger Mann machte mir neulich die Bemerkung: »In vieler Hinsicht ist man hier in Frankreich freier, als in Persien; darum lieben wir auch den Ruhm weit mehr. Unter dem Einfluß dieses glücklichen Triebes vollbringt ein Franzose gern und freudig, was euer Sultan bei seinen Unterthanen nur erreicht, indem er ihnen beständig Strafen und Belohnungen vor Augen hält.

Auch wacht bei uns der Fürst über die Ehre des geringsten seiner Unterthanen, und durch hochangesehene Gerichtshöfe wird sie geschützt; denn sie ist der heilige Schatz der Nation, Zwischen Ruhmsucht und nationalem Ehrgefühl besteht ein großer Unterschied, den der Verfasser nicht zu erkennen scheint. Die Ehre ist ein heiliges Gut:
      Nichtswürdig ist die Nation, die nicht
Ihr Alles freudig seht an ihre Ehre.«

     (Schiller, Jungfrau von Orleans, I, 5.)
der einzige, über welchen der König keine Gewalt hat, weil er durch jede Mißachtung desselben sein eigenes Interesse schädigen würde. Fühlt sich daher ein Unterthan durch seinen Fürsten an seiner Ehre gekränkt, sei es nun durch Zurücksetzung oder durch das geringste Zeichen von Verachtung, so verläßt er auf der Stelle Hof, Amt und Dienst und kehrt in das Privatleben zurück.

Es ist auch nicht schwierig, den Unterschied zwischen den französischen und den persischen Truppen zu erklären. Die letzteren bestehen aus Sklaven, die von Natur feige sind; darum wird ihre Furcht vor dem Tode nur durch die Furcht vor der Strafe überwunden; diese aber erfüllt die Seele mit einer neuen Art von Schrecken, der sie gleichsam betäubt. Die Franzosen andrerseits begegnen den feindlichen Streichen mit Lust und bannen die Furcht durch einen freudigen Stolz, der stärker ist als sie.

Aber das Allerheiligste der Ehre, des Ruhmes und der Tugend scheinen die Republiken und die Länder zu sein, wo man das Wort Vaterland mit frohem Bewußtsein aussprechen kann. In Rom, in Athen, in Lacedämon war die Ehre der einzige Preis der herrlichsten Thaten. Ein Eichen- oder ein Lorbeerkranz, eine Bildsäule, eine Lobrede galt als höchste Belohnung für eine gewonnene Schlacht oder eine eroberte Stadt.

Wer dort eine große That vollbracht hatte, fand in der That selbst seinen schönsten Lohn. Keinen seiner Mitbürger konnte er erblicken, ohne freudig sich als seinen Wohlthäter zu empfinden; so viele ihrer waren, so groß war die Zahl seiner verdienstlichen Handlungen. Einem Einzelnen Gutes zu thun vermag jeder Mensch; aber zum Glücke eines ganzen Volkes beitragen, – das heißt den Göttern gleichen.

Muß aber dieser edle Wetteifer in den Herzen eurer Perser nicht ganz erloschen sein, da bei ihnen Ämter und Würden nur Zeichen von der Laune des Fürsten sind? Ehre und Tugend werden dort als wesenlose Schatten betrachtet, wenn die fürstliche Gunst Man beachte den, wohl absichtlichen, Widerspruch diese mit dem vorigen Briefe: »Die Gunst ist die große Gottheit der Franzosen.« ihnen fehlt, mit der sie entstehen und vergehen. Niemals vermag ein Mann, welcher der allgemeinen Achtung genießt, zu sagen, ob er nicht morgen entehrt sein werde. Heut ist er noch General des Heeres; aber morgen macht ihn der Fürst vielleicht zu seinem Koch, und in Zukunft wird er nur noch auf Lob hoffen dürfen, wenn er ein gutes Ragout bereitet hat.«

Paris, am 15. des zweiten Mondes Gemmadi, 1715.



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