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Hundertundsechsundfünfzigster Brief.
Roxane an Usbek in Paris.

Das Grausen, die Nacht und das Entsetzen herrschen im Serail; über ihm lagert fürchterliche Trauer; ein Tiger läßt in ihm ohne Unterlaß seine ganze Wut aus. Über zwei weiße Verschnittene, die nur ihre Unschuld bekennen konnten, hat er den Tod verhängt. Eine Anzahl von unseren Sklavinnen hat er verkauft; die übrigen mußten wir unter einander austauschen. Zachi und Zelis haben in ihren Zimmern im Dunkel der Nacht eine schmachvolle Behandlung erfahren; der Ruchlose hat sich nicht gescheut, seine verächtlichen Hände an sie zu legen. Er hält uns alle abgesondert in unseren Gemächern eingeschlossen; und obwohl wir daselbst ganz allein sind, verbietet er uns, den Schleier abzulegen. Es ist uns nicht mehr gestattet, mit einander zu reden, und wenn wir uns schreiben wollten, so würde das als ein Verbrechen gelten. Wir haben kein Rechte mehr, als unsere Thränen.

Eine Schar von neuen Eunuchen ist in das Serail eingezogen, wo sie uns Tag und Nacht belagern; unablässig stört uns ihr wahres oder erheucheltes Mißtrauen in der Ruhe unseres Schlafes. Es ist mein einziger Trost, daß alles dies nicht lange währen kann, und daß die Qualen zugleich mit meinem Leben ihr Ende finden werden. Es wird nur noch kurz sein, grausamer Usbek! werde Dir keine Zeit lassen, alle diese Beschimpfungen wieder einzustellen.

Im Serail zu Ispahan, am 2. des Mondes Maharram, 1720.



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