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Vierundneunzigster Brief.
Usbek an seinen Bruder, Santon im Kloster zu Kasbim.

Santon = Türkischer Mönch.

Ich nahe Dir in tiefer Demut, heiliger Santon, und werfe mich vor Dir nieder; ich achte die Spuren Deiner Füße wie meinen Augapfel. Deine Heiligkeit ist so groß, als wohnte in Deiner Brust das Herz unseres heiligen Propheten; selbst der Himmel staunt über Dein entsagungsvolles Leben; und als die Engel aus den Höhen der Herrlichkeit auf Dich herabgeblickt, da haben sie gesagt: »Wie kommt es, daß er noch auf Erden weilt, da doch sein Geist mit uns den Thron umschwebt, den die Wolken tragen?«

Und wie sollte ich Dich nicht ehren? Weiß ich doch es von unseren Schriftgelehrten, daß die Derwische, selbst bei den Ungläubigen, immer von jener Heiligkeit umflossen sind, welche allen wahren Gläubigen Ehrfurcht gebietet! Habe ich doch von ihnen gelernt, daß Gott sich an allen Enden der Erde die reinsten Seelen auserlesen und sie von der ungerechten Welt abgesondert hat, damit ihre Kasteiungen und ihre brünstigen Gebete seinen Zorn besänftigen möchten, der so viele ungehorsame Völker zu zerschmettern droht!

Die Christen erzählen Wunder von ihren Santons, die sich zu Tausenden in die schrecklichen Einöden der thebaischen Wüste flüchteten, und unter denen Paulus, Antonius und Pachomius die bedeutendsten waren. Das Anachoretenwesen nahm seinen Ursprung während der Christenverfolgung des Kaisers Decius. Paulus von Theben war der erste uns bekannte Einsiedler. Er lebte fast neunzig Jahre in der Wüste, wo ihn, als er soeben gestorben war, im Jahre 340 der heilige Antonius in betender Stellung fand. Unter dem letzteren sammelten sich viele Einsiedler in der Wildnis, um sich später unter seinem Jünger Pachomius zu klösterlichem Leben zu vereinigen. (Vergl. Zöckler, Kritische Geschichte der Askese.) sei. Wenn alles wahr ist, was sie von ihnen berichten, so war ihr Leben nicht weniger reich an Wundern, als das unserer heiligsten Imame. Manchmal sahen sie zehn ganze Jahre lang keinen Menschen; aber die Dämonen umlagerten sie Tag und Nacht. Unaufhörlich wurden sie von diesen bösen Geistern gequält; im Bette wie bei Tische gesellten sie sich zu ihnen; es gab keine Zuflucht vor ihnen. Wenn alles dies glaubwürdig ist, ehrwürdiger Santon, so müßte man wirklich sagen, daß noch kein Mensch in schlechterer Gesellschaft gelebt hat.

Die Verständigen unter den Christen betrachten alle solche Geschichten als eine ganz natürliche Allegorie, welche den Zweck hat, uns an die menschliche Hilflosigkeit zu erinnern. Vergeblich suchen wir in der Wüste die Ruhe; immer begleiten uns die Versuchungen; denn auch dort weichen unsere Leidenschaften, welche das Gleichnis Dämonen nennt, nicht von uns. Diese Quälgeister unseres Herzens, diese Trugbilder der Sinne, diese eitlen Phantome des Irrtums und der Lüge tauchen beständig vor uns auf, um uns zu verführen, und überraschen uns mit ihren Angriffen selbst bei unsren Fast- und Bußübungen, also in dem eigentlichsten Hort unserer Kraft.

Was mich anbetrifft, ehrwürdiger Santon, so weiß ich, daß der Abgesandte Gottes den Satan in Ketten gelegt und ihn in den Abgrund gestürzt hat; dadurch hat er die Erde von der Herrschaft des Bösen gereinigt und sie zu einem würdigen Aufenthalt für Engel und Propheten gemacht.

Paris, am 9. des Mondes Chahban, 1715.



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