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Hundertundeinundvierzigster Brief.
Rica an denselben in ***.

Gegen Ende der Woche werde ich zu Dir kommen. Wie angenehm werden mir die Tage in Deiner Gesellschaft verfließen!

Kürzlich wurde ich einer Hofdame vorgestellt, die den Wunsch geäußert hatte, meine fremdartige Erscheinung zu sehen. Ich fand sie schön und nicht nur der Blicke unsers Monarchen, sondern selbst eines Ehrenplatzes an der geweihten Stätte würdig, wo sein Herz Ruhe findet.

Sie bestürmte mich mit tausend Fragen über die Sitten der Perser und die Lebensweise der Perserinnen. Wie mir schien, war das Leben im Serail nicht nach ihrem Geschmack, und es mochte ihr eine widerliche Vorstellung sein, einen Mann unter zehn bis zwölf Weiber geteilt zu sehen. Nicht ohne Neid konnte sie das Glück des einen, und nicht ohne Mitleid die Lage der anderen betrachten. Da sie gern liest, besonders Dichter und Romane, so wünschte sie etwas von den unsrigen zu erfahren. Was ich ihr darüber mitteilte, verdoppelte ihre Neugier, und sie bat mich, ihr ein Stück aus einem der Bücher, die ich mitgebracht habe, zu übersetzen. Ich war gern dazu bereit und übersandte ihr nach einigen Tagen eine persische Erzählung Vielleicht wird es Dir Vergnügen machen, einen Blick in die Übertragung zu werfen. Strodtmann hat von der folgenden frivolen Erzählung gesagt, sie sei »offenbar ein Zerrbild der unerhörten Sittenlosigkeit, die unter der Regentschaft am französischen Hofe herrschte und in der Schamlosigkeit ihrer Ausschweifung alle Grenzen überschritt.« Doch gerade solche Stoffe entsprachen dem Geschmack jener Zeit, und Montesquieu wußte sehr wohl, was seinem Publikum behagte. Auch ist es nicht zweifelhaft, daß er selbst diesen Geschmack teilte. Sicherlich verdankten die »Persischen Briefe« vielmehr diesem frivolen Rahmen als ihrem ernsteren Inhalt die ungeheuere Popularität.

Zur Zeit des Scheikh Ali-Khan lebte in Persien eine Frau namens Zuleima. An dieser Einleitung erkennt man die Nachahmung von »Tausend und eine Nacht«, wovon damals bereits eine französische Übersetzung von Galland existierte, der 1715 gestorben war. Der Grundstock dieser Märchensammlung ist persischen Ursprungs, von dem Dichter Rafi verfaßt; sie wurde erst später ins Arabische übertragen. (Vergl. Scherr, Allg. Gesch. der Litteratur, I, 67.) Sie wußte den ganzen heiligen Koran auswendig; kein Derwisch verstand besser als sie die Überlieferungen Die muhamedanische Tradition ist in der Sunna enthalten, welche neben dem Koran die zweite Glaubensquelle der Moslemin bildet. der heiligen Propheten; kein Ausspruch der arabischen Schriftgelehrten war zu geheimnisvoll für sie, um nicht den tiefsten Sinn desselben zu erfassen; und bei allen diesen Kenntnissen besaß sie doch ein lebensfrohes Gemüt, so daß man kaum wußte, ob sie diejenigen, mit denen sie redete, nur unterhalten oder belehren wollte.

Als sie eines Tages mit ihren Gefährtinnen in einem Saale des Serails beisammen war, begehrte eine derselben ihre Ansicht über das künftige Leben zu vernehmen, und ob sie an jene alte Überlieferung unserer Religionskundigen glaube, daß das Paradies nur für die Männer bestimmt sei.

»So denkt man im Allgemeinen,« gab sie zur Antwort; »denn was hätte man nicht gethan, um unser Geschlecht herabzusetzen? Über ganz Persien ist sogar eine Nation verbreitet, nämlich die jüdische, die auf Grund ihrer heiligen Bücher behauptet, daß wir keine Seele haben. Auch in christlichen Zeiten hat man Ähnliches behauptet. So wurde von Bischöfen auf einem Concil zu Mâcon entschieden, Weiber seien nicht von menschlicher, sondern von tierischer Natur. Derartige Lehren wie auch den Hexenglauben erklärt sich Lecky aus dem Cölibat. (Hist. of Rationalism I, 77.)

»Diese beleidigenden Anschauungen entspringen nur aus dem Hochmut der Männer, die ihre Überlegenheit selbst auf das künftige Leben übertragen wollen. Sie bedenken nicht, daß an dem großen Tage der Auferstehung alle Geschöpfe vor Gott wie das Nichts erscheinen und weiter keine Vorrechte besitzen werden, als die sie durch ihre Tugend verdient haben.

»Gott wird seinen Belohnungen keine Schranken sehen. Die Männer, welche ein gerechtes Leben geführt und die ihnen hier auf Erden über uns verliehene Macht nicht mißbraucht haben, werden in ein Paradies eingehen, das von himmlischen und entzückenden Schönheiten erfüllt ist, Schönheiten von solcher Herrlichkeit, daß ein Sterblicher, der sie gesehen hätte, sich vor ungeduldigem Verlangen nach ihnen augenblicklich den Tod geben würde. Ebenso aber sollen auch die tugendhaften Frauen an einen Ort der Wonne gelangen, wo ein Strom von wollüstigen Genüssen mit göttlichen Männern, die ihnen unterthan sind, sie berauschen wird. Jede von ihnen wird die ihrigen in einem eigenen Serail eingeschlossen halten, und Eunuchen, die noch treuer sind als die unsrigen, werden ihr zur Verfügung stehen, um dieselben zu bewachen. Man darf wohl annehmen, daß durch diese Geschichte der Glaube an die Auferstehung des Fleisches persiflirt werden soll (Vergl. Brief 126), in der ja bereits Luther große Schwierigkeiten entdeckt hatte; denn er bedauerte die in den Türkenkriegen Verkrüppelten, daß sie am jüngsten Tage große Mühe haben würden, die in Feindesland zurückgelassenen Arme und Beine wiederzufinden.

»In einem arabischen Buche,« fuhr sie fort, »habe ich von einem Manne, namens Ibrahim, gelesen, dessen Eifersucht unerträglich war. Er hatte zwölf äußerst schöne Frauen, die er mit großer Härte behandelte. Weder auf seine Verschnittenen, noch auf die Mauern seines Harems vertraute er zuletzt; fast immer hielt er die armen Weiber hinter Schloß und Riegel, in ihren Gemächern eingesperrt, ohne daß sie einander zu sehen oder zu sprechen vermochten, denn sogar auf eine unschuldige Freundschaft war er eifersüchtig. Alle seine Handlungen trugen den Stempel seiner natürlichen Brutalität; niemals kam ein sanftes Wort aus seinem Munde, und der allergeringste seiner Winke erschwerte noch das harte Los ihrer Sklaverei.

»Als er sie eines Tages alle in einem Saale seines Serails versammelt hatte, wagte es eine von ihnen, welche kühner war als ihre Genossinnen, ihn wegen seines bösen Charakters zu tadeln. ›Wenn man so eifrig darauf bedacht ist, sich gefürchtet zu machen,‹ sagte sie zu ihm, ›so wird man sich immer noch eher verhaßt machen. Wir sind so unglücklich, daß wir nicht umhin können, nach einer Veränderung Verlangen zu tragen. Andere würden an meiner Stelle deinen Tod begehren; ich begehre nur meinen eigenen. Da ich nur so hoffen kann, von dir getrennt zu werden, wird mir auch dieses Mittel der Trennung süß sein.‹ Anstatt ihn zu rühren, versetzte ihn diese Rede in wütenden Zorn; er zückte seinen Dolch und bohrte ihr denselben in die Brust. ›Meine lieben Genossinnen,‹ hauchte sie mit erlöschender Stimme, ›wenn der Himmel sich meiner Tugend erbarmt, so sollt ihr gerächt werden.‹ So sprechend, schied sie auf diesem unseligen Leben, um zu dem Ort der Wonne einzugehen, wo die Frauen, welche tugendhaft gelebt haben, eines Glückes genießen, das sich immer wieder erneuert.

»Das erste, was sie erblickte, war eine lachende Flur, deren frisches Grün durch den buntesten Farbenschmuck der Blumen belebt war. In unzähligen Windungen schlängelte sich durch dieselbe ein Bach, und sein Wasser war klarer als Krystall. Dann betrat sie ein reizendes Lustwäldchen, dessen Schweigen nur von dem süßen Gesang der Vögel unterbrochen wurde. Herrliche Gärten öffneten sich darauf vor ihren Blicken; die Natur hatte dieselben mit ihrer Einfachheit und mit ihrer ganzen Pracht geschmückt Endlich gelangte sie zu einem stolzen Palast, der für sie bereit stand: der war voll himmlischer Männer, deren Bestimmung es war, ihrem Genusse zu dienen.

»Zwei von diesen eilten sogleich herbei, um sie zu entkleiden; andere trugen sie in das Bad und benetzten ihre Glieder mit Essenzen von köstlichstem Wohlgeruch. Dann legte man ihr Gewänder an, die unendlich viel reicher waren als ihre eigenen, und führte sie in einen großen Saal, wo ein mit wohlriechendem Holze angezündetes Feuer brannte, und ein Tisch mit den ausgesuchtesten Leckerbissen besetzt war. Alles schien darauf angelegt, das Entzücken ihrer Sinne zu steigern. Von der einen Seite vernahm sie eine Musik, die um so göttlicher war, in je sanfterem Spiele ihre Töne dahinrauschten; auf der andren sah sie nur die Tänze jener göttlichen Männer, welche einzig darauf bedacht waren, ihr zu gefallen. Doch sollten alle diese Genüsse nur dazu dienen, sie unmerklich auf noch höhere vorzubereiten. Man führte sie in ihr Gemach, und nachdem man sie noch einmal entkleidet hatte, trug man sie in ein kostbares Bett, wo zwei Männer von entzückender Schönheit sie in ihre Arme schlossen. Da erst erreichte ihr Rausch seine höchste Steigerung, und ihr wollüstiger Genuß übertraf selbst ihr Verlangen. ›Ich bin ganz außer mir,‹ sagte sie zu ihnen. ›Ich würde zu sterben glauben, wenn ich nicht wüßte, daß ich unsterblich bin. Es ist zu viel; schont mich; ich erliege unter dem Ungestüm des Genusses. Ja, nun beruhigt ihr meine Sinne ein wenig; ich beginne wieder aufzuatmen und zu mir selbst zu kommen. Aber warum hat man die Kerzen fortgetragen? Warum kann ich mich jetzt nicht an dem Anblick eurer göttlichen Schönheit weiden? Warum kann ich nicht sehen … Doch warum sehen? Ihr versetzt mich wieder in die früheren Schauer meiner Wollust. O Götter, wie angenehm ist diese Dunkelheit! Wie? Ich werde unsterblich sein, unsterblich mit euch? Ich werde … Nein, ich flehe euch um Gnade an; denn ich sehe wohl, daß ihr Leute seid, die niemals darum bitten werden.‹

»Nach mehrmals wiederholten Aufforderungen wurde ihr Folge geleistet, jedoch nicht eher, als bis es ihr ernstlicher Wille war. In süßer Abspannung ruhte sie aus, und in ihren Armen überwältigte sie der Schlaf. Aber zwei Augenblicke desselben genügten, um ihrer Ermattung ein Ende zu machen. Zwei Küsse setzten sie plötzlich wieder in Flammen, und sie öffnete die Augen. ›Ich empfinde eine Beruhigung,‹ sprach sie; ›ich fürchte, ihr liebt mich nicht mehr.‹ Von diesem Zweifel wollte sie nicht lange gequält werden; und es fehlte ihr auch nicht an jeglicher Aufklärung, die sie nur wünschen konnte. ›Ich habe geirrt!‹ rief sie aus. ›Verzeihung, Verzeihung! Ich zweifle nicht länger an euch. Ihr macht mir keine Beteuerungen; aber eure Beweise sind besser, als alles, was ihr mir sagen könntet. Ja, ja, ich gestehe es euch, niemals wurde ich so geliebt. Aber wie, ihr wetteifert beide um die Ehre, mich zu überzeugen? Ach, wenn ihr euch dieselbe streitig macht, wenn ihr noch den Ehrgeiz mit dem Vergnügen meiner Niederlage verbindet, so bin ich verloren. Beide werdet ihr als Sieger hervorgehen; nur ich werde besiegt sein. Aber ich werde euch den Sieg teuer verkaufen.‹

»Alles dies wurde erst durch den neuen Tag unterbrochen. Ihre treuen und liebenswürdigen Diener traten in ihr Zimmer und hießen die beiden jungen Männer aufstehen; zwei Greise führten dieselben an den Ort zurück, wo sie zu fernerem Liebesgenusse für sie bewacht wurden. Dann erhob sie sich und erschien vor ihrem sie vergötternden Hofe zuerst in der lieblichen Einfachheit eines Morgenkleides, und später mit dem kostbarsten Schmucke bedeckt. In dieser Nacht war sie noch schöner geworden; dieselbe hatte ihre Farben belebt und ihrer Anmut erhöhten Ausdruck verliehen. Während des ganzen Tages gab es nichts als Tänze, Konzerte, Festlichkeiten, Spiele und Spaziergänge; und man konnte bemerken, daß Anaïs sich von Zeit zu Zeit entfernte und zu ihren beiden jugendlichen Helden eilte. Nach einigen köstlichen Augenblicken des Wiedersehens kehrte sie dann zu der Gesellschaft, die sie verlassen hatte, zurück, und jedesmal verklärte noch höhere Freudigkeit ihre Züge. Gegen Abend endlich verschwand sie ganz; sie schloß sich in dem Serail ein, wo sie, wie sie sagte, mit jenen unsterblichen Gefangenen Bekanntschaft machen wollte, die auf ewig mit ihr leben sollten. Sie besuchte also die verschiedenen Gemächer dieses verborgensten und reizendsten Ortes und fand daselbst fünfzig Sklaven von märchenhafter Schönheit. Während der ganzen Nacht schweifte sie von Zimmer zu Zimmer, und überall wurden ihr andere, und doch immer die nämlichen Huldigungen dargebracht.

»So genoß die unsterbliche Anaïs ihres Lebens, bald in rauschenden Vergnügungen, bald in einsamen Freuden; bald von einer glänzenden Schar bewundert, bald von einem hingerissenen Anbeter geliebt. Oft verließ sie einen feenhaften Palast, um sich in eine ländliche Grotte zu begeben. Unter ihren Füßen schienen die Blumen zu erblühen, und wohin sie kam, war Lust und Spiel für sie bereit.

»Länger als acht Tage hatte sie schon an dieser seligen Stätte verweilt, ohne jemals zum Nachdenken zu gelangen, da sie immerfort außer sich vor Wonne war. Sie hatte ihr Glück genossen, ohne es zu kennen und ohne einen einzigen von jenen Augenblicken der Ruhe zu finden, wo die Seele, sozusagen, mit sich abrechnet und auf die innere Stimme lauscht, während die Leidenschaften schweigen.

»Die Freuden der Seligen sind so lebhaft, daß ihnen diese Freiheit des Geistes nur selten zu teil wird. Dies ist der Grund, daß sie, unwiderstehlich der Gegenwart hingegeben, die Erinnerung an das Vergangene völlig verlieren und nicht länger um die Dinge Sorge tragen, welche sie während ihres Erdenlebens gekannt oder geliebt haben.

»Anaïs indessen, deren Geist wahrhaft philosophisch war, hatte fast ihr ganzes Leben dem Nachdenken gewidmet. Ihre Gedanken hatten einen weit höheren Flug genommen, als man es von einer Frau erwarten sollte, die ganz sich selbst überlassen ist. Die strenge Zurückgezogenheit, zu der ihr Gatte sie gezwungen, hatte ihr nur diesen einzigen Vorteil gelassen. Diese Kraft ihres Geistes hatte sie befähigt, die Furcht zu überwinden, die ihre Gefährtinnen empfanden, und hatte sie den Tod verachten gelehrt, der das Ende ihrer Leiden und der Anfang ihrer Glückseligkeit sein sollte.

»So kam es, daß sie nach und nach den Rausch der Lust von sich abschüttelte und sich allein in einem Gemache ihres Palastes einschloß. Sie erging sich in wohlthuenden Vergleichungen zwischen ihrer früheren Lage und ihrem gegenwärtigen Glücke; auch konnte sie nicht umhin, des Unglücks ihrer Gefährtinnen voll tiefen Mitleids zu gedenken; denn für Kummer, an dem man selbst teilgenommen, wird man immer Mitgefühl bewahren. Aber auf ein unthätiges Mitleid beschränkte sich Anaïs nicht; ihre Liebe zu jenen Elenden war stärker, und sie fühlte sich getrieben, ihnen Hilfe zu senden.

»Sie befahl einem der Jünglinge, die bei ihr waren, die Gestalt ihres Gemahls anzunehmen, sich in sein Serail zu begeben, dasselbe in Besitz zu nehmen, ihn daraus zu vertreiben und statt seiner daselbst zu verweilen, bis sie ihn wieder abriefe.

»Augenblicklich wurde ihr gewillfahrt. Er schwebte durch die Lüfte hinab und kam an die Pforte des Serails, von welchem Ibrahim gerade abwesend war. Er klopft, und alles öffnet sich vor ihm; die Eunuchen fallen ihm zu Füßen, und er eilt zu den Gemächern, wo Ibrahims Frauen eingeschlossen sind. Auf seinem Wege hatte er aus der Tasche dieses Eifersüchtigen, dem er sich unsichtbar gemacht, die Schlüssel entwendet. Er trat zu ihnen ein und überraschte sie zuerst durch sein sanftes und gütiges Benehmen; und bald darauf überraschte er sie noch mehr durch seine Leidenschaft und durch das ungestüme Feuer seiner Umarmungen. Jede hatte besonderen Grund, zu staunen, und sie würden alles für einen Traum gehalten haben, wäre nicht die Wirklichkeit so zweifellos gewesen.

»Während diese ungewohnten Scenen sich im Serail abspielen, pocht Ibrahim an die Thür, nennt seinen Namen, stürmt und schreit. Mit großer Schwierigkeit erlangt er, daß man ihn einläßt, und versetzt die Eunuchen in die äußerste Bestürzung. Mit starken Schritten eilt er vorwärts; aber er prallt zurück und ist wie aus den Wolken gefallen, als er den falschen Ibrahim, sein vollkommenes Ebenbild, in allen Freiheiten eines Herrn erblickt. Er ruft nach Hilfe; er verlangt, daß die Verschnittenen ihm helfen sollen, den Betrüger totzuschlagen; aber er findet keinen Gehorsam. Nur eine schwache Hoffnung ist ihm noch gelassen: nämlich, das Urteil seiner Frauen anzurufen. Aber im Verlaufe einer Stunde hatte der falsche Ibrahim alle seine Richterinnen verführt. So wird denn der rechte zurückgewiesen und schimpflich aus dem Serail geworfen, und ein tausendfacher Tod würde ihn treffen, wenn sein Nebenbuhler nicht Befehl gegeben hätte, seines Lebens zu schonen. Der neue Ibrahim behauptete also das Feld, zeigte sich seiner Wahl immer würdiger und that sich durch wunderbare Leistungen hervor, wie man sie bis dahin nicht gekannt hatte. ›Du gleichst dem alten Ibrahim nicht,‹ sprachen seine Frauen zu ihm. – ›Sagt vielmehr, daß jener Betrüger mir nicht gleicht,‹ versetzte der triumphierende Ibrahim. ›Was verlangt ihr von eurem Gemahl, wenn das, was ich thue, nicht genügend ist?‹

›O, wir werden uns wohl hüten, daran zu zweifeln!‹ riefen die Weiber. ›Bist du nicht Ibrahim, so wissen wir doch, daß du reichlich verdient hast, es zu sein. In einem einzigen Tage bist du mehr Ibrahim, als er es im Laufe von zehn Jahren gewesen ist.‹ – ›So versprecht ihr mir also,‹ fragte er, ›euch diesem Betrüger gegenüber zu meinen Gunsten zu erklären?‹ – ›Zweifle nicht daran,‹ antworteten sie wie aus einem Munde. ›Wir schwören dir ewige Treue; nur zu lange wurden wir mißhandelt. Nicht unserer Tugend mißtraute der Elende; er mißtraute nur seiner eigenen Schwäche. Wir erkennen nun wohl, daß nicht alle Männer so wie er sind; ganz gewiß gleichen sie dir. O, wenn du wüßtest, wie verhaßt er uns durch dich geworden ist!‹ – ›Ei nun, ich werde euch noch oft neuen Grund zum Hasse geben,‹ erwiderte der falsche Ibrahim. ›Noch vermögt ihr nicht zu ermessen, wieviel Unrecht er euch zugefügt hat.‹ – ›Die Größe deiner Rache dient uns zum Maßstabe seiner Missethaten,‹ gaben sie ihm zur Antwort. – ›Ja, ihr habt Recht,‹ sagte der göttliche Mann, ›ich will, daß die Sühne im Verhältnis zu seinem Verbrechen stehe. Ich bin erfreut, daß die Strafe, die ich gewählt habe, euren Beifall findet.‹ – ›Aber was sollen wir thun, wenn der Betrüger zurückkehrt?‹ warfen die Frauen ein. – ›Ich glaube, es würde ihm schwer werden, euch zu täuschen,‹ versetzte er. ›An der Stelle, die ich bei euch einnehme, vermöchte man sich nicht leicht durch List zu behaupten; und übrigens werde ich ihn so weit von hier entfernen, daß ihr nicht mehr von ihm hören sollt. Hinfort liegt die Sorge für euer Glück mir allein ob. Ich werde nicht eifersüchtig sein; ich werde mich eurer zu versichern wissen, ohne eure Freiheit zu beschränken. Ich habe eine ziemlich gute Meinung von meinen Verdiensten; darum vertraue ich, daß ihr mir die Treue bewahren werdet. Mit wem verbunden würdet ihr tugendhaft bleiben, wenn ihr es nicht mit mir bliebet?‹ – Noch lange setzte er diese Unterhaltung mit den Weibern fort, welche mehr über die Verschiedenheit als über die Ähnlichkeit der beiden Ibrahims staunten und nicht einmal daran dachten, um Aufklärung über so viele Wunder zu bitten. Endlich kam der verzweifelte Gatte noch einmal wieder, um sie in Unruhe zu versetzen. Er fand, daß die Freude in sein Haus eingezogen war, und seine Frauen schenkten ihm noch weniger Glauben als zuvor. Hier war nicht der Ort für einen Eifersüchtigen; wutschnaubend stürmte er hinaus, und im nächsten Augenblicke folgte ihm der falsche Ibrahim, schwang sich mit ihm in die Lüfte und setzte ihn vierhundert Meilen von dort wieder auf die Erde.

»O ihr Götter!Wie trostlos waren die Frauen in der Abwesenheit ihres lieben Ibrahim. Schon waren ihre Verschnittenen zu ihrer alten Strenge zurückgekehrt; das ganze Haus zerfloß in Thränen; mitunter glaubten sie, alles, was ihnen begegnet, sei nur ein Traum gewesen; alle blickten sie einander an und erinnerten sich an die geringsten Umstände jener seltsamen Abenteuer. Doch endlich fand sich Ibrahim wieder ein, und seine Liebenswürdigkeit hatte noch zugenommen; sie schlossen daraus, daß die Beschwerden seiner Reise nicht groß gewesen seien. So verschieden von den Gewohnheiten des früheren Gatten war das Verfahren des neuen Herrn, daß es alle Nachbarn überraschte. Er entließ sämtliche Eunuchen und machte sein Haus für jedermann zugänglich; er wollte nicht einmal dulden, daß seine Frauen sich verschleierten. Es war ein eigentümlicher Anblick, wie sie bei den Festen mitten unter Männern saßen, ebenso frei wie diese. Ibrahim glaubte mit Recht, daß die Landessitten nicht für Bürger seiner Art gemeint seien. Indessen versagte er sich keinerlei Ausgaben; in maßloser Freigebigkeit verstreute er die Güter des Eifersüchtigen, der, als er nach drei Jahren aus dem fernen Lande, wohin er versetzt worden war, heimkehrte, nur noch seine Frauen und sechsunddreißig Kinder fand.«

Paris, am 26. des ersten Mondes Gemmadi, 1720.



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