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Hundertundachtzehnter Brief.
Usbek an denselben.

Das Verbot der Ehescheidung ist nicht die einzige Ursache der Entvölkerung in den christlichen Ländern; die große Zahl von Eunuchen, welche sich in denselben befinden, trägt ebenso viel dazu bei.

Ich rede von den Priestern und von den Derwischen beiderlei Geschlechts, welche sich einer ewigen Enthaltsamkeit weihen. Diese gilt bei den Christen als die höchste Tugend; doch muß ich sagen, daß mir dieser Standpunkt unverständlich ist; denn was ist eine Tugend, die keine Resultate hat!

Nach meiner Ansicht sind ihre Theologen in offenbarem Widerspruch, wenn sie sagen, die Ehe sei heilig, und das Cölibat, welches das Gegenteil davon ist, sei es noch mehr. Außerdem ist, wo es sich um Gebote und religiöse Fundamentallehren handelt, das Gute immer das Beste.

Die Menge dieser Leute, die sich dem Cölibat gelobt haben, ist erstaunlich. Ehemals verdammten die Eltern ihre Kinder schon in der Wiege dazu; heutzutage legen diese mit vierzehn Jahren das Keuschheitsgelübde ab, was ungefähr das Nämliche besagen will.

Dies Enthaltsamkeitsgewerbe hat mehr Menschen vernichtet, als es die Pest und die blutigsten Kriege jemals gethan haben. In jedem Ordenshause sieht man eine ewige Familie, die niemals einem Kinde das Leben giebt und sich auf Kosten aller Übrigen ernährt. Diese Häuser sind stets geöffnet, gleich Abgründen, in denen die kommenden Geschlechter sich begraben.

Diese Politik ist von der der Römer sehr verschieden; denn bei den letzteren verfiel jedermann gesetzlichen Strafen, wenn er sich den Pflichten der Ehe entzog, um eine Freiheit zu genießen, welche sich mit dem Wohl des Staates so wenig verträgt. Der Censor Metellus hatte bereits im Jahre 131 v. Chr. beantragt, daß die Bürger liberorum causa creandorum causa von Staatswegen zur Heirat gezwungen werden sollten. (Livius LIX und Sueton., Div. Augustus, 89.) Hagestolze hatten später eine Steuer zu entrichten. (Valer. Max. II, 9, l. Über die lex Julia Poppaea vergl. Tacitus, Ann. III, 25.) Aber dies galt nur für die Freien, während es scheint, als hatten die meisten römischen Sklaven im Cölibat zu leben. (Vergl. Brief 116, Anm. 222.)

Das Obige gilt indessen nur von katholischen Ländern. Unter der protestantischen Religion hat jeder das Recht, Kinder zu zeugen; sie duldet weder Priester noch Derwische. Wären die Stifter dieser Religion, zur Zeit als sie dieselbe begründeten und in ihrer ursprünglichen Reinheit herstellten, nicht unaufhörlich der Unmäßigkeit beschuldigt worden, so würden sie unzweifelhaft, nachdem sie die Ehe allgemein gemacht hatten, auch noch das Joch derselben erleichtert und in dieser Hinsicht die letzte Scheidewand niedergerissen haben, durch welche die Gebräuche der Nazarener und der Muhamedaner von einander getrennt sind.

Aber wie es sich auch damit verhalten möge, soviel ist gewiß, daß die Protestanten durch ihre Religion vor den Katholiken einen unendlichen Vorteil haben.

Fast möchte ich es für unmöglich erklären, daß bei dem jetzigen Zustande von Europa die katholische Religion noch fünfhundert Jahre daselbst fortdauern könne.

Ehe Spaniens Macht gebrochen war, hatten die dortigen Katholiken über die Protestanten die Oberhand. Nach und nach kamen die letzteren mit ihnen ins Gleichgewicht, und heutzutage beginnt die Wage sich auf ihre Seite zu neigen. Dies Übergewicht wird sich noch täglich vermehren; die Protestanten werden reicher und mächtiger und die Katholiken schwächer werden.

Die protestantischen Länder müssen besser bevölkert sein, als die katholischen, und sie sind es in der That. Infolge davon sind dort erstlich die Staatseinkünfte beträchtlicher, weil sie sich in demselben Verhältnis mehren wie die Anzahl der Steuerzahlenden; zweitens wird dem Landbau, größere Sorgfalt gewidmet; und endlich steht der Handel daselbst in höherer Blüte; denn es sind mehr Leute vorhanden, die auf ihren Erwerb bedacht sein müssen, und je größer die Bedürfnisse, desto mehr Hilfsquellen werden erschlossen, um sie zu befriedigen. Ist die Einwohnerzahl nur gerade für den Ackerbau hinreichend, so muß der Handel zu Grunde gehen; giebt es andrerseits nur so viele, als zum Betrieb des Handels erforderlich sind, so muß der Ackerbau darunter leiden; mit andren Worten, alle beide müssen gleichzeitig in Verfall geraten; denn wenn man dem einen ausschließliche Pflege angedeihen läßt, so geschieht es immer auf Unkosten des anderen. Daß eine dichte Bevölkerung Zeichen des Wohlstandes eines Landes sei, hat schon Spinoza gesagt: »Imperii potentia ex civium numero aestimanda est.« (Tract. politicus VII, 18) Auch Locke, der ebenso wie Spinoza auf Montesquieu's staatswissenschaftliche Ideen Einfluß geübt hat, äußert ähnliche Ansichten. Colberts Politik (Vergl. Brief 59) war von den nämlichen Grundsätzen geleitet; er erließ im Jahre 1666 ein Gesetz, wonach hohe Prämien für Ehen und Kinderzeugung versprochen wurden. Zwischen den Theoretikern dieser Richtung und der Schule, welche die Gefahr der Übervölkerung fürchtet, hat ein steter Wechsel stattgefunden (Roscher a. a. O. § 254, Anm. 2.)

Was die katholischen Länder anbetrifft, so wird daselbst nicht nur der Ackerbau vernachlässigt, sondern die Arbeit nimmt sogar eine verderbliche Richtung; denn sie beschränkt sich auf das Erlernen von fünf oder sechs Worten einer toten Sprache. Hält jemand erst einmal diesen Vorrat in Händen, so braucht er sich um sein Glück weiter keine Sorgen zu machen; im Kloster findet er ein ruhiges Leben, welches ihm in der Welt Schweiß und Anstrengung gekostet haben würde. In Portugal lebten zu Anfang unseres Jahrhunderts wenigstens 200 000 Geistliche auf 3 bis 3½ Millionen Einwohner überhaupt. (Ebeling, Erdbeschreibung von Portugal, 66.)

Und dieses ist noch nicht alles. Den Derwischen gehören fast alle Reichtümer des Staates; sie sind eine Gesellschaft von Geizhälsen, die immer nehmen und niemals geben. Unaufhörlich häufen sie ihre Einkünfte an, um ihre Kapitalien zu vergrößern. Alle diese Schätze verfallen gleichsam in einen Zustand der Lähmung; kein Umlauf mehr, kein Handel, keine Künste, keine Manufakturen.

Es giebt keinen protestantischen Fürsten, der nicht von seinem Volke zehnmal mehr Steuern erhöbe, als der Papst von seinen Unterthanen. Dennoch leben die letzteren im Elend, die anderen dagegen im Überfluß. Bei den einen wird alles durch den Handel belebt; bei den andren verbreitet das Mönchtum überall den Tod.

Paris, am 26. des Mondes Chahban, 1718.



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