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Achter Brief.
Usbek an seinen Freund Rustan in Ispahan.

Dein Brief ist mir in Erzerum, wo ich mich augenblicklich aufhalte, zugegangen. Ich hatte es mir wohl gedacht, daß meine Abreise Aufsehen erregen würde, und habe mich darum nicht weiter bekümmert. Meinst Du nicht, daß ich besser thue, der Richtschnur meiner eigenen Einsicht, als der meiner Feinde zu folgen?

Ich kam schon in frühester Jugend an den Hof, und ich darf wohl sagen, daß mein Herz dort nicht verdorben wurde: ja, ich faßte sogar einen großen Entschluß, ich wagte es, daselbst tugendhaft zu sein. Sobald ich das Laster kennen lernte, floh ich es; aber ich näherte mich ihm in der Folge, um es zu entlarven. Ich trug die Wahrheit bis zu den Stufen des Thrones; ich redete daselbst eine Sprache, die bis dahin unbekannt gewesen war; ich brachte die Schmeichelei außer Fassung, und setzte zu gleicher Zeit die Anbetenden und ihren Abgott in Erstaunen.

Als ich aber sah, daß meine Aufrichtigkeit mir Feinde geschaffen hatte; daß ich mir die Eifersucht der Minister zugezogen, ohne die Gunst des Fürsten zu besitzen; daß ich mich an einem korrumpierten Hofe nur noch durch eine schwache Tugend aufrecht erhielt, so entschloß ich mich, ihn zu verlassen Ich schützte eine große Neigung zu den Wissenschaften vor; und durch mein Vorgehen bildete sie sich in Wirklichkeit. Ich mischte mich in keinerlei Geschäfte mehr und zog mich in ein Landbaus zurück. Aber selbst dieser Weg hatte seine Unzuträglichkeiten: ich blieb der Mißgunst meiner Feinde fortdauernd ausgesetzt, und fast hatte ich mich der Mittel beraubt, mich davor zu sichern. Etliche geheime Winke brachten mich zu ernstlichem Nachdenken über meine Lage: ich beschloß, mich aus meinem Vaterlande zu verbannen, und gerade meine Entfernung vom Hofe lieferte mir dafür einen plausiblen Vorwand. Ich ging zum König, eröffnete ihm meinen Wunsch, mich in den Wissenschaften des Abendlandes zu unterrichten, gab ihm zu verstehen, daß er von meinen Reisen Nutzen ziehen könne, fand Gnade vor seinen Augen, machte mich auf den Weg und beraubte meine Feinde eines Opfers.

Hier, Rustan, hast du den wirklichen Beweggrund zu meiner Reise. Laß Ispahan schwatzen und verteidige mich nur vor denen, die mich lieb haben. Laß meinen Feinden ihre boshaften Auslegungen: ich bin zu glücklich, daß dies das einzige Übel ist, welches sie mir anthun können.

Gegenwärtig redet man von mir: vielleicht werde ich nur zu sehr vergessen werden, und meine Freunde … Nein, Rustan, ich will mich diesem traurigen Gedanken nicht hingeben: ich werde ihnen immer teuer sein; ich zähle auf ihre Treue wie auf die Deinige.

Erzerum, am 20. des zweiten Mondes Gemmadi, 1711.



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