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Zwölfter Brief.
Usbek an denselben nach Ispahan.

Du hast gesehen, mein lieber Mirza, wie die Troglodyten gerade durch ihre Schlechtigkeit zu Grunde gingen und die Opfer ihrer eigenen Ungerechtigkeit wurden. Von so vielen Familien blieben nur zwei übrig, die von dem Unglück ihres Volkes verschont wurden. In jenem Lande bildeten nämlich zwei Männer ganz eigene Ausnahmen: sie besaßen Menschlichkeit, kannten die Gerechtigkeit und liebten die Tugend. Ebenso eng durch die Redlichkeit ihres eigenen Herzens wie durch die Korruption des Sinnes ihrer Mitbürger miteinander verbunden, sahen sie das allgemeine Elend und empfanden nur Mitleid darüber: und dies wurde ihnen zur Grundlage einer neuen Vereinigung. Mit gemeinsamem Eifer wirkten sie für ihr gemeinsames Wohl; sie kannten keinen Widerspruch, als solchen, der einer innigen und zärtlichen Freundschaft entsprang; und in der abgelegensten Gegend des Landes, fern von ihren Landsleuten, die ihrer Nähe unwürdig waren, führten sie ein glückliches und friedliches Leben: der Boden, durch diese tugendhaften Hände bebaut, schien von selbst seine Erzeugnisse herzugeben.

Sie liebten ihre Frauen und wurden auch von diesen zärtlich geliebt. All' ihr Denken war darauf gerichtet, ihre Kinder zur Tugend zu erziehen. Sie schilderten ihnen unablässig das Unglück ihrer Mitbürger und lenkten ihre Blicke auf dies ergreifende Beispiel; und besonders nährten sie in ihnen das Gefühl, daß das Wohl des Einzelnen immer von dem Gemeinwohl abhängt; daß sich von diesem absondern wollen sich dem Untergange nähern heißt; daß die Tugend uns nicht als ein Opfer erscheinen darf; daß man sie nicht als eine schmerzliche Anstrengung betrachten soll; und daß die Gerechtigkeit gegen andre eine Wohlthat für uns selbst ist.

Bald hatten sie denn auch den Trost tugendhafter Väter, Kinder zu besitzen, die ihnen ähnlich waren. Das junge Volk, das unter ihren Augen heranwuchs, vermehrte sich durch glückliche Ehebündnisse: ihre Zahl vervielfältigte sich, während ihre Einigkeit immer die nämliche blieb; und die Tugend, weit entfernt in der Masse schwach zu werden, stärkte sich im Gegenteil durch die größere Menge guter Beispiele.

Wer vermöchte das Glück dieser Troglodyten recht zu schildern? Ein so gerechtes Volk mußte von den Göttern geliebt werden Sobald ihm die Augen für die Erkenntnis derselben ausgingen, lernte es sie fürchten; und die Religion milderte in ihren Sitten, was die Natur darin an Rohheit zurückgelassen hatte.

Zur Ehre der Götter setzten sie Feste ein. Mädchen im Blumenschmuck und Knaben feierten sie durch ihre Tänze und durch den Wohllaut einer ländlichen Musik; und Festgelage folgten darauf, wo der Frohsinn nicht minder herrschte als die Mäßigkeit Es war die naive Natur, welche in diesen Versammlungen Sprache fand; da lernte man sein Herz hingeben und Herzen finden; da machte die jungfräuliche Scham errötend ein überraschtes Geständnis, das bald vom Segen der Väter bestätigt wurde; da war es eine Herzensfreude zärtlicher Mütter, süße und treue Bündnisse ahnend im Werden zu belausche.

Man ging in den Tempel, um die Huld der Götter zu erflehen. Doch nicht Reichtum und die Last des Überflusses erbaten sie; denn solche Wünsche wären des glücklichen Troglodyten unwürdig gewesen; nicht für sich, nur für andre konnten sie dieselben hegen. Nur die Gesundheit ihrer Eltern, die Eintracht ihrer Brüder, die Treue ihrer Frauen, die Liebe und den Gehorsam ihrer Kinder erflehten sie vor den Altären. Die Mädchen brachten dort ihre Herzen als sein liebliches Opfer dar und beteten um keine andere Gnade, als einen Troglodyten glücklich machen zu können.

Abends, wenn die Herden von der Weide heimkehrten, und die ermüdeten Stiere den Pflug zurückgebracht hatten, versammelten sie sich und besangen bei einem einfachen Mahle die Ungerechtigkeit der ersten Troglodyten und ihr schlimmes Ende, die Wiedergeburt der Tugend in einem neuen Volke und ihr Glück. Weiter sangen sie dann von; der Größe der Götter, von ihrer Huld, die stets denen, die sie anrufen, zuteil wird, und von ihrem unvermeidlichen Zorn, welcher die betrifft, die sie nicht fürchten. Danach schilderten sie die Freuden des Landlebens und das Glück, eines Lebens, dessen dauernder Schmuck die Unschuld ist. Früh überließen sie sich dann einem Schlafe, der von Sorgen und Kummer niemals unterbrochen wurde.

Die Natur befriedigte ihre Wünsche nicht weniger als ihre Bedürfnisse. In diesem glücklichen Lande war die Habsucht unbekannt. Sie erfreuten sich durch Geschenke, bei welchen der Geber stets im Vorteil zu sein glaubte. Das Volk der Troglodyten betrachtete sich als eine einzige Familie, die verschiedenen Herden waren fast immer vermischt, und die einzige Mühe, die daraus erwuchs, die man sich aber für gewöhnlich sparte, bestand darin, sie wieder abzusondern

Erzerum, am 6. des zweiten Mondes Gemmadi, 1711.



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