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Hundertunddreiundzwanzigster Brief.
Usbek an denselben.

Die Milde einer Regierung übt einen wunderbaren, Einfluß auf die Fortpflanzung der Gattung. Beständige Beweise hierfür sind sämtliche Republiken, ganz besonders aber die Schweiz und Holland, ihrer Bodenbeschaffenheit nach die schlechtesten Länder in ganz Europa, aber nichtsdestoweniger die volkreichsten. So sehr wir den Wert einer freien Verfassung oder, was Montesquieu eine milde Regierung nennt, schätzen, halten wir obigen Grundsatz der Volksvermehrung doch für einseitig und historisch unrichtig. Die beste politische Form ist unzureichend, wenn die ökonomischen und socialen Verhältnisse den Bedürfnissen des Volkes nicht entsprechen. »Populorum omnium felicitas in corpore potius quam in animo sita est. Ex hac nempe sollicitudine non modo gaudium popularium procedit, sed etiam securitas praesidentium. Nihil est enim terribilius plebe familica.« (Petrarcha, de Rep. optime administranda.) Eine weise Volkswirtschaft mag ohne »Milde der Regierung« nicht bestehen können; aber eine milde Regierung ist an sich noch keine weise Volkswirtschaft.

Durch nichts werden die Fremden so sehr angezogen wie durch die Freiheit und den Wohlstand, der stets in ihrem Gefolge ist. Die erstere sucht man um ihrer selbst willen, und in die Länder, wo der letztere zu finden ist, wird man von seinen Bedürfnissen getrieben.

Die Gattung vermehrt sich in einem Lande, wenn der Überfluß für die Kinder sorgt, ohne daß der Unterhalt der Eltern dadurch kärglicher würde.

Selbst die Gleichheit der Bürger, welche gewöhnlich auch Gleichheit des Vermögens zur Folge hat, erfüllt alle Teile des Staatskörpers mit Wohlstand und Leben und verbreitet beides überall.

Anders verhält es sich in jenen Ländern, die unter dem Drucke der Willkürherrschaft stehen. Dort sind alle Reichtümer das Eigentum des Fürsten, der Höflinge und einiger Mächtigen, während alle andren in äußerster Armut schmachten. Petrarcha (a. a. O.) citiert rühmend den Ausspruch des Konstantius: melius publicas opes privatis haberi, quam intra unum claustrum reservari.

Ist ein Mann in unbefriedigender Lage, und fühlt er, daß seine Kinder noch ärmer sein würden, als er selbst, so heiratet er nicht; oder wenn er doch heiratet, so wird er Sorge tragen, keine zu große Zahl von Kindern in die Welt zu setzen, da dieselben sein Vermögen völlig zu Grunde richten und unter die Lage ihres Vaters hinabsinken müßten.

Ich gebe indessen zu, daß der Landmann oder der Bauer, sobald er einmal verheiratet ist, unbedenklich Kinder zeugen wird, ob er nun reich sei oder arm. Auf ihn hat diese Betrachtung keinen Einfluß; denn er kann seinen Kindern immer ein sicheres Erbteil hinterlassen, nämlich seinen Pflug; und er läßt sich durch nichts verhindern, blind dem Naturtriebe zu folgen.

Was aber nützt einem Staate jene Masse von Kindern, die im Elend schmachten? Sie gehen fast alle in demselben Verhältnis, in dem sie geboren werden, wieder zu Grunde; sie gedeihen niemals; schwach und kraftlos, wie sie sind, sterben sie bald einzeln auf tausenderlei Art dahin; bald raffen sie die häufigen Volksseuchen, welche Not und schlechte Nahrung immer zum Ausbruch bringen, im Großen hinweg. Und die endlich, welche aus denselben davonkommen, erreichen das mannbare Alter ohne die Kraft desselben und siechen ihr Leben lang.

Die Menschen gleichen den Pflanzen, welchen niemals ein glückliches Wachstum zu Teil wird, wenn sie keine gute Pflege haben. Bei elenden Völkern verfällt die Gattung, und mitunter artet sie sogar aus.

Für alles dies kann Frankreich als großartiges Beispiel dienen. Von der späteren Zeit Ludwigs XIV. versichert Vauban, daß fast ein Zehntel des französischen Volkes bettelte, fünf Zehntel keine Almosen geben konnten, weil sie selbst dem Elende ganz nahe standen; drei Zehntel waren fort malaisés, embarrassés de dettes et de procès; kaum ein Prozent konnte fort à leur aise genannt werden. (Roscher, a. a. O. § 78, 4.) In den früheren Kriegen ließen sich alle Söhne durch ihre beständige Furcht, in das Heer eingestellt zu werden, zum Heiraten zwingen, und zwar in viel zu unreifem Alter und in größter Armut. Aus so zahlreichen Ehen gingen natürlich viele Kinder hervor; aber man würde jetzt in Frankreich vergeblich nach ihnen suchen; denn Elend, Hungersnot und Krankheiten haben sie dahingerafft.

Wenn man schon unter einem so glücklichen Himmelsstriche, in einem so gesitteten Reiche wie Frankreich derartige Erfahrungen macht, wie soll es da erst in anderen Staaten aussehen?

Paris, am 23. des Mondes Rhamazan, 1718.



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