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Achtundneunzigster Brief.
Usbek an Hassein, Derwisch auf dem Gebirge Jaron.

O weiser Derwisch, dessen forschungslustiger Geist so reich ist an tiefem Wissen, höre mich an.

Es giebt hier Philosophen, welche freilich nicht bis zum Gipfel morgenländischer Weisheit emporgedrungen sind; sie waren nicht verzückt bis zum Throne des Lichts; sie vernahmen weder die unaussprechlichen Worte, welche jubelnd durch die Chöre der Engel tönen, noch empfanden sie den erhabenen Rausch einer göttlichen Begeisterung: aber, sich selbst überlassen und von keinen heiligen Wunderzeichen geleitet, folgen sie schweigend den Spuren der menschlichen Vernunft. Copernicus, Kepler, Galilei, Newton. Der Letztere lebte damals noch; er starb im Jahre 1727.

Kaum wirst Du es für glaublich halten, wie weit diese Führerin sie schon gefördert hat. Sie haben das Chaos entwirrt und durch eine einfache Mechanik die Gesetze der göttlichen Baukunst erklärt. Der Urheber der Natur hat der Materie Bewegung verliehen: Das war alles, dessen es bedurfte, um die wunderbare Mannigfaltigkeit von Wirkungen hervorzubringen, die uns im Weltall vor Augen liegt.

Sonst erlassen die Gesetzgeber ihre Gesetze nur, um Ordnung in die menschliche Gesellschaft zu bringen; Gesetze, die dem Wechsel ebenso sehr unterworfen sind, wie der Geist der Männer, die sie aufstellen, und der Völker, die ihnen gehorchen. Aber jene andren sprechen uns nur von allgemeinen, unwandelbaren, ewigen Gesetzen, die keine Ausnahme zulassen, sondern mit unendlicher Ordnung, Regelmäßigkeit und Geschwindigkeit die unermeßlichen Räume, beherrschen.

Und was meinst Du wohl, Mann Gottes, was das für Gesetze seien? Vielleicht bildest Du Dir ein, wenn Du einst in den Rat des Ewigen trittst, so werde die Erhabenheit seiner Geheimnisse Dich mit Staunen erfüllen, und von vornherein verzichtest Du darauf, sie zu begreifen; Du willst weiter nichts, als sie bewundern?

Aber Du wirst bald anders darüber denken. Sie blenden durchaus nicht durch falsche Erhabenheit; ihre Einfachheit war die Ursache, daß man sie lange verkannt hat, und erst durch vieles Nachdenken hat man ihre ganze Fülle und Ausdehnung erkannt.

Nach dem ersten dieser Gesetze strebt jeder Körper, eine gerade Linie zu beschreiben, falls er nicht auf ein Hindernis trifft, welches ihn davon ablenkt; und nach dem zweiten, welches nur eine Folge des ersten ist, strebt jeder Körper, der sich um einen Mittelpunkt bewegt, sich davon zu entfernen, weil die Linie, die er beschreibt, sich um so mehr einer geraden Linie nähert, je weiter er sich vom Mittelpunkte entfernt. Centrifugalkraft.

Dies also, erhabener Derwisch, ist der Schlüssel der Natur; dies sind die fruchtbaren Prinzipien, aus denen man Schlußfolgerungen zieht bis ins Grenzenlose, wovon Du in einem anderen Briefe Genaueres erfahren sollst.

Die Kenntnis von fünf oder sechs Wahrheiten hat ihre Philosophie mit Wundern überfüllt, und durch sie haben sie mehr Zeichen und Thaten vollbracht, als alles, was man uns von unseren heiligen Propheten erzählt.

Denn nach meiner Überzeugung giebt es nicht einen unter unseren Gelehrten, der nicht in Verlegenheit geraten wäre, wenn er die ganze Luftmasse, welche die Erde umgiebt, in einer Wagschale hätte wägen oder alles Wasser, welches im Laufe eines Jahres auf die Erdoberfläche herabfällt, hätte messen sollen. Auch wüßte ich keinen, der sich nicht mehr als viermal besinnen müßte, ehe er sagen könnte, wieviel Meilen der Schall in einer Stunde zurücklegt; wieviel Zeit ein Lichtstrahl gebraucht, um von der Sonne bis zu uns zu dringen; wieviel Klafter die Entfernung von hier bis zum Saturn beträgt; oder mit welcher Krümmung ein Schiff gebaut sein muß, um den bestmöglichen Segler abzugeben.

Wenn irgend ein Gottesmann die Werke dieser Philosophen in hohe und erhabene Worte gegossen und sie mit kühnen Gleichnissen und geheimnisvollen Allegorien untermischt hätte, vielleicht würde er damit ein schönes, nur von dem heiligen Koran übertroffenes Werk zu Stande gebracht haben.

Soll ich Dir indessen frei meine Meinung sagen, so bekenne ich, daß mir der bilderreiche Stil nicht gar wohl behagt. Unser Koran enthält viel kindisches Zeug, und als solches erscheint es mir stets, obwohl es durch Kraft und Lebendigkeit des Ausdrucks gehoben ist. Man glaubt zuerst, die offenbarten Bücher seien nur göttliche Gedanken in menschlicher Sprache; dagegen findet man in unserem Koran die Sprache Gottes und die Denkungsart der Menschen, als hätte Gott, in wundersamer Laune, die Worte eingegeben, der Mensch aber die Gedanken dazu geliefert.

Vielleicht wirst Du sagen, ich rede zu frei von dem, was bei uns als das Heiligste gilt, und Du wirst dies für die Folge des unabhängigen Lebens halten, welches man in diesem Lande führt. Aber nein, dem Himmel sei Dank, der Verstand hat meinem Herzen keinen Schaden zugefügt, und solange ich lebe, wird Ali mein Prophet sein.

Paris, am 15. des Mondes Chahban, 1716.



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