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Achtzigster Brief.
Der Groß-Eunuch an Usbek in Paris.

Gestern brachten Armenier eine junge Sklavin aus Cirkassien in das Serail, um sie zu verkaufen. Ich ließ dieselbe in die geheimen Gemächer treten, entkleidete sie und betrachtete sie mit den Blicken eines Sachverständigen; und je genauer ich sie untersuchte, desto mehr Reize entdeckte ich an ihr. Es schien, als wollte ihre jungfräuliche Schamhaftigkeit sie vor meinen Augen verbergen; ich sah, wie schwer es ihr wurde zu gehorchen; sie errötete, sich nackt zu finden, selbst vor mir, der ich, frei von Leidenschaften, welche die Schamhaftigkeit beunruhigen dürften, unempfindlich gegen die Einflüsse ihres Geschlechts bin und, auch in den unbefangensten Handlungen ein Wächter der Sittsamkeit, nur keusche Blicke habe und nur Unschuld einflößen kann.

Sobald sich mein Urteil gebildet, daß sie Deiner würdig sei, senkte ich meine Augen, warf ihr einen Scharlachmantel über und steckte ihr einen goldenen Ring an den Finger. Darauf fiel ich ihr zu Füßen und betete sie an als die Königin Deines Herzens. Den Armeniern zahlte ich ihren Preis; sie selbst entzog ich allen Blicken; Glücklicher Usbek! Du besitzest mehr Schönheiten, als in allen Palästen des Morgenlandes geborgen sind. Welche Lust wird es für Dich sein, bei Deiner Heimkehr das Reizendste zu finden, was es in Persien giebt, und zu sehen, wie in Deinem Serail die Anmut immer von neuem geboren wird, wenn Zeit und Besitz sie zu zerstören suchen. Die Cirkassier sind wegen ihrer Schönheit berühmt, und die Mädchen wurden ehemals zum Verkauf gezüchtet. Der Hauptmarkt war früher Caffa in der Krimm. Ihre feine Haut soll der Schutzpockenimpfung zugeschrieben werden, die erst aus Cirkassien nach England gekommen ist. Vergl. einen Aufsatz über »Tscherkassische Mädchen« von Lichtenberg (Verm. Schriften, Bd. 6, 430).

Fatmehs Serail, am 1. des ersten Mondes Rebiab, 1715.



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