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Hundertundfünfundfünfzigster Brief.
Usbek an Nessir in Ispahan.

Glücklich, wer, sich des ganzen Wertes eines gemächlichen und stillen Lebens bewußt, im Schoße seiner Familie die Ruhe des Herzens findet und kein anderes Land kennt, als die eigene Heimat! Ich lebe unter einem barbarischen Himmelsstriche, umgeben von lauter Dingen, die mir zur Last sind, fern von allem, was mir lieb ist. Eine düstere Traurigkeit überkommt mich; ich versinke in einen Zustand schrecklicher Niedergeschlagenheit; es ist mir, als ob ich vergehe; und nur dann komme ich wieder zu mir selbst, wenn eine quälende Eifersucht in mir erglüht und in meiner Seele die Furcht, den Argwohn, den Haß und die Reue heraufbeschwört.

Du kennst mich, Nessir; mein Herz hat stets so offen vor Dir gelegen wie Dein eigenes. Du würdest mich bemitleiden, wenn Du wüßtest, wie bejammernswert mein Zustand ist. Manchmal muß ich ein volles halbes Jahr auf Nachrichten aus dem Serail warten; ich zähle die Minuten, die dahinfließen; für meine Ungeduld dehnen sich die Stunden zu Tagen; und kommt endlich der so lange ersehnte Augenblick, so kehrt sich in meinem Herzen plötzlich alles um; meine Hand zittert, da sie den Brief öffnen will, der vielleicht verhängnisvoll ist; die Unruhe, die mich vorher zur Verzweiflung brachte, erscheint mir wie ein Glück, wenn ich sie mit der drohenden Gewißheit vergleiche, und ich fürchte, daß der Schlag, der ihr ein Ende machen soll, mich schwerer treffen wird als ein tausendfacher Tod.

Aber wie dringende Veranlassung ich auch hatte, mich aus meinem Vaterlande zu entfernen, und obwohl ich meiner Flucht das Leben verdanke, Nessir, ich kann diese schreckliche Verbannung nicht länger ertragen. Würde ich nicht auch hier sterben, ein Opfer meines Kummers? Ich habe Rica tausendmal gedrängt, dies fremde Land zu verlassen; aber allen meinen Entschlüssen setzt er seinen Widerstand entgegen, und mit tausend Vorwänden sucht er mich hier zu fesseln. Es ist, als habe er sein Vaterland vergessen, oder vielmehr, als habe er mich selbst vergessen, so gefühllos zeigt er sich gegen mein Herzeleid.

O ich Unglücklicher! Ich wünsche mein Vaterland wiederzusehen, und vielleicht nur, um noch unglücklicher zu werden! Weh mir, was wird meiner daselbst warten! Ich werde meinen Kopf an meine Feinde ausliefern. Und Schlimmeres noch: Ich werde in das Serail zurückkehren, und dann muß ich Rechenschaft fordern über die unheilvolle Zeit meiner Abwesenheit. Und was soll aus mit werden, wenn ich Schuldige finde? Wenn mich die bloße Vorstellung davon in so weiter Entfernung überwältigt, wie soll ich es aushalten, wenn ich gegenwärtig bin und sie um so lebendiger vor Augen habe? Wenn ich sehen und hören muß, an was ich nicht ohne Schaudern zu denken wage? Wie endlich, wenn die Strafen, die ich selbst verhängen muß, unverlöschliche Erinnerungszeichen meiner Schande und meiner Verzweiflung bleiben?

Ich werde mich hinter Mauern einschließen, die für mich schrecklicher sind, als für die Frauen, die sie verwahren. Mein ganzer Argwohn wird mich dahin begleiten, und ihre Schmeicheleien werden ihn um nichts verringern. In meinem Bett, in ihren Armen werde ich nur meine Unruhe empfinden; zu einer Zeit, die so wenig zu Grübeleien geeignet ist, wird meine Eifersucht mich dazu verführen. Unwürdiger Auswurf der menschlichen Natur, niedrige Sklaven, deren Herz allen Gefühlen der Liebe für immer verschlossen ist, ihr würdet euer Schicksal nicht länger beseufzen, wenn euch mein unseliges Los bekannt wäre.

Paris, am 4. des Mondes Chahban, 1719.



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