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Hundertundvierter Brief.
Usbek an denselben.

Zur Ergänzung der Gedanken, die ich Dir in meinem letzten Briefe mitgeteilt hatte, sende ich Dir heut eine ziemlich wortgetreue Aufzeichnung etlicher Äußerungen, die ich neulich von einem freisinnigen Europäer vernahm.

»Die asiatischen Fürsten hätten keine schlechtere Maßregel ergreifen können, als sich so verborgen zu halten. Sie glauben, sich dadurch größere Ehrerbietung zu sichern; aber sie gewinnen dieselbe nur für das Königtum, nicht für den König, und fesseln die Gedanken ihrer Unterthanen an einen bestimmten Thron, aber nicht an eine bestimmte Person.

Eine Macht, die unsichtbar regiert, bleibt für das Volk immer die nämliche. Mögen auch zehn Könige, die es nur dem Namen nach kennt, einer nach dem andern von ihren Nachfolgern erdrosselt werden, es merkt gar keinen Unterschied; ihm ist es gerade, als wäre es von eben so vielen Geistern nacheinander regiert worden.

Hätte der verabscheuungswürdige Mörder Ravaillac, der seine That am u. Mai 1610 beging. unseres großen Königs Heinrichs IV. jenen Dolchstoß gegen einen König von Indien geführt, so würde er, als Herr des königlichen Siegels und eines unermeßlichen, wie für ihn gesammelten Schatzes, ruhig die Zügel des Reiches ergriffen haben, ohne daß ein einziger Mensch daran gedacht hätte, seinen König, seine Familie und seine Kinder von ihm zurückzufordern.

Man wundert sich, daß unter der Regierung orientalischer Fürsten fast niemals Veränderungen stattfinden; aber was sonst ist die Ursache davon, als daß sie tyrannisch und fürchterlich ist?

Nur von Fürsten oder vom Volke können Veränderungen ausgehen; doch hüten sich die dortigen Fürsten wohl, dergleichen zu unternehmen; denn sie befinden sich auf einer so hohen Stufe der Macht, daß ihnen nichts weiter zu wünschen übrig bleibt; eine Veränderung könnte ihnen also nur zum Nachteil gereichen.

Was dagegen die Unterthanen betrifft, so würde keiner von ihnen imstande sein, etwaige Verbesserungspläne im Staate zur Ausführung zu bringen; denn um plötzlich einer furchtbaren und immer einzigen Macht das Gegengewicht zu halten, würde es an Zeit und Mitteln fehlen. Wer aber sogleich auf den eigentlichen Ausgangspunkt jener Macht seinen Angriff richtet, bedarf nur eines Armes und eines Augenblicks.

Der Mörder besteigt den Thron, während der Monarch von demselben herabgestürzt wird, zusammenbricht und zu seinen Füßen den Geist aufgiebt.

In Europa ist ein Mißvergnügter darauf bedacht, sich mit anderen in ein geheimes Einverständnis zu setzen, sich mit den Feinden zu verbünden, einen festen Platz in seine Hände zu bekommen und die Unterthanen zu einem gewissen Grade von grollender Unzufriedenheit aufzureizen. In Asien geht ein Mißvergnügter geradeswegs zum Fürsten: Überfall, Stoß und Sturz sind eins, und alles ist vernichtet, selbst die Erinnerung an den Gefallenen; in einem Augenblick wird der Sklave zum Herrn, der Thronräuber zum rechtmäßigen Monarchen.

Wehe dem König, der nur einen Kopf hat! Denn es scheint, als vereinige er auf demselben nur deswegen seine ganze Macht, damit jeder Ehrgeizige wisse, wo sie ganz und ungeteilt zu finden ist. Lecky macht darauf aufmerksam, daß überhaupt im Zustande unreifer Civilisation der Tyrannenmord gerechtfertigt schien, so bei den Griechen, Römern und Juden. Im Jahre 1599 wurde er unter Approbation der Jesuiten von Mariana in einem berüchtigten Buche verteidigt. »Aber,« heißt es dann, »die unermeßliche Gefahr der Ermutigung des einzelnen, sich zum Richter der Bestimmung einer Nation zu machen, wird für diejenigen, welche eines weiterdringenden Blickes über das Gebiet der Politik fähig sind, ein mehr als hinreichendes Gegengewicht gegen jene Beweisgründe sein.« (Hist. of Rationalism, II, 159)

Paris, am 17. des zweiten Mondes Rebiab, 1717.



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