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Hundertundsiebenunddreißigster Brief.
Rica an denselben.

Tags darauf führte er mich in einen anderen Raum. »Hier befinden wir uns unter den Dichtern,« begann er seine Erklärung. »Das sind nämlich die Schriftsteller, die es sich zur Aufgabe machen, dem gesunden Menschenverstand Fesseln anzulegen und die Vernunft unter Wortgepränge zu erdrücken, wie man früher die Frauen unter ihrem Putz und ihren Schmucksachen begrub. Sie kennen dieselben ja; denn unter den Morgenländern sind sie nicht selten, wo die Sonne mit ihrer heißen Glut selbst die Einbildungskraft zu erhitzen scheint. Bereits Pascal hatte (Pensées, VII, 25) ein ähnliches wegwerfendes Urteil über die Poesie gefällt, sie auch schon einem mit Schmucksachen überladenen Frauenzimmer verglichen; es ist also ersichtlich, daß Montesquieu sich hier auf Pascals Autorität stützt. Voltaire schloß daraus, der letztere habe von Dingen gesprochen, die er nicht verstand, und Laharpe bemerkt dazu, dies sei das einzige Mal, daß er gegen Pascal Recht gehabt. Gegen Montesquieu war Voltaire sehr erbittert; er sagte von ihm, er habe sich der Poesiebeleidigung schuldig gemacht. Über die persischen Dichter vergl. Brief 34, Anm. 63.

Dies hier sind die epischen Gedichte.« – »Epische Gedichte? Was ist denn das?« – »Wahrhaftig, ich weiß es nicht,« erwiderte er. »Wie die Kenner sagen, sind deren nur zwei gemacht worden; alle, welche sonst noch unter diesem Namen bekannt sind, sollen gar keine sein. Aber ich weiß auch darüber nichts. Noch erstaunlicher ist es, daß sie weiter sogar behaupten, es sei überhaupt unmöglich, noch neue zu schreiben. Voltaires »Henriade« erschien erst 1727; er konnte also diese Kritik nicht auf sich persönlich beziehen.

Darauf folgen die Dramatiker, die ich für die eigentlichen Dichter und die Gebieter über die Leidenschaften halte. Es giebt ihrer zwei Arten: die komischen, die uns auf so sanfte Weise bewegen, und die tragischen, die uns in Aufregung versetzen und so heftige Gefühle in uns erwecken.

Nun kommen wir zu den Lyrikern, die ich ebenso verachte, wie ich die anderen hochschätze; ihre Kunst besteht darin, in harmonischem Tonfall zu rasen. Unabsichtlich erinnern an diese Stelle Tiecks von Uhland glossierte Verse:
»Süße Liebe denkt in Tönen,
Denn Gedanken steh'n zu fern.«

Ihnen folgen die Verfasser von Idyllen und Eklogen, die selbst den Höflingen gefallen, indem sie ihnen das Bild der Ruhe vorspiegeln, welche sie nicht besitzen, und die dort im Leben der Schäfer dargestellt wird.

Aber die nun folgenden sind gefährlicher als alle Schriftsteller, die wir bisher gesehen haben, denn sie spitzen Epigramme zu, kleine scharfe Pfeile, welche tief und unheilbar verwunden.

Hier können Sie ferner auch Romane sehen, die gleichfalls von einer Art Dichtern geschrieben sind, welche die Sprache des Geistes ebenso wie die des Herzens übertreiben. Sie bringen ihr Leben damit hin, die Natur zu suchen, und finden sie niemals; und sie gestalten Helden, die an Seltsamkeit den geflügelten Drachen und den Hippocentauren gleichkommen.« Gleichwohl hatte zu jener Zeit Lesage seine beiden bedeutenden Romane schon veröffentlicht: »Der hinkende Teufel« (1707); »Gil Blas« (1715).

»Mir sind einige von Ihren Romanen zu Gesichte gekommen,« warf ich ein. »Aber wenn Sie die unsrigen sähen, so würden sie Ihnen noch mehr mißfallen. Sie sind ebenso unnatürlich, und zudem durch unsere Sitten in freiem Flusse gehemmt. Zehn Jahre müssen in Leidenschaft dahingehen, ehe ein Liebender nur das Gesicht seiner Geliebten erblicken kann. Doch können die Verfasser nicht umhin, ihre Leser durch diese langweiligen Einleitungen zu schleppen. Da es nun unmöglich ist, eine bunte Mannigfaltigkeit der Ereignisse vorzuführen, so muß man seine Zuflucht zu einem Kunststück nehmen, welches schlimmer ist, als das Übel, das man heilen will, nämlich zum Wunder. Gewiß werden Sie es nicht billigen können, daß eine Zauberin ein Heer aus dem Boden stampft, oder daß ein einziger Held eine Schar von hunderttausend Mann vernichtet. Aber das ist der gewöhnliche Gang unserer Romane; diese kalten, oft wiederholten Abenteuer langweilen uns, und diese tollen Wunder empören uns.« Das Gericht, welches der hyperkritische Bibliothekar in diesen vier Briefen (134-137) über sämtliche Literaturzweige ergehen läßt, verfehlt seinen Zweck, weil es selbst als Satire zu sehr übertreibt. Es ist eine Nachahmung des kritischen Kapitels im »Don Quixote«, aber mit mehr Arroganz und weniger Humor. Bei einer solchen Verurteilung in Bausch und Bogen muß es natürlich Ausnahmen geben, und jeder Schriftsteller wird sich für eine Ausnahme halten.

Paris, am 6. des Mondes Chalval, 1719.



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