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Vierundvierzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

In Frankreich giebt es drei Stände: den geistlichen, den Soldaten- und den Richter-Stand. Jeder von ihnen betrachtet die beiden anderen mit souveräner Verachtung; so wird z. B. ein Mensch, der durch seine Dummheit verächtlich ist, oft nur deswegen verachtet, weil er ein Rechtsgelehrter.

Bis auf den niedrigsten Handwerker hinab streiten sich die Leute über den Vorrang ihres Gewerbes; und je höher jemandes Meinung von der Würde seines eigenen Berufes, desto größer ist seine Überhebung über andere Geschäftstreibende.

Alle Menschen gleichen mehr oder minder jener Frau aus der Provinz Erivan, die zum Danke für eine Gnade, welche sie von einem unserer Monarchen empfangen hatte, ihre Segenssprüche mit dem tausendfältigen Wunsche krönte, der Himmel möge ihn zum Statthalter von Erivan machen.

In einer Reisebeschreibung habe ich von einem Schiffe gelesen, das an der Küste von Guinea vor Anker ging und ein paar Leute von der Mannschaft ans Land schickte, um Hammel einzukaufen. Man führte sie vor den König, der gerade unter einem Baume im Kreise seiner Unterthanen eine Gerichtssitzung abhielt. Er saß so stolz auf seinem Throne, d. h. auf einem Holzblock, als säße er auf dem Throne des Großmoguls. Es umgab ihn eine Leibwache von drei oder vier Mann mit hölzernen Spießen. Ein Schirm, der wie ein Traghimmel aussah, beschützte ihn vor der Sonnenhitze. Ihre schwarze Haut und einige Ringe waren sein und seiner königlichen Gemahlin ganzer Schmuck. Aber die Eitelkeit dieses Fürsten war noch größer;als seine Armseligkeit; darum erkundigte er sich bei den fremden Besuchern, ob man nicht in Frankreich viel von ihm redete. Er bildete sich ein, sein Name sei bekannt von einem Pol bis zum andern; und, im Gegensatze zu jenem Eroberer, von dem man erzählt, er habe die ganze Erde zum Schweigen gebracht, glaubte er seinerseits, er könne das Weltall zum Reden bringen.

Wenn der Tartaren-Khan gespeist hat, so verkündet ein Herold, daß nun alle Fürsten der Erde ihre Mahlzeit beginnen dürfen, wenn es ihnen gutdünke. Und dieser Barbar, dessen ganze Nahrung in Milch besteht, der kein Haus hat und nur vom Raube lebt, betrachtet alle Könige der Welt als seines Sklaven und verhöhnt sie regelmäßig zweimal des Tage

Paris, am 28. des Monats Rhegeb, 1713.



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