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Hundertundsechsundvierzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Es ist schon lange her, seit man Redlichkeit die Seele eines großen Ministers genannt hat.

Ein Privatmann hat den Vorteil seiner Verborgenheit; er verliert seine Ehre nur in den Augen weniger Leute; die andern wissen nichts davon. Aber die ehrlosen Handlungen eines Ministers haben ebenso viele Zeugen, ebenso viele Richter, als der Staat Einwohner hat, die unter seiner Regierung leben.

Offen gestanden, den Schaden, den ein unredlicher Minister seinem Fürsten zufügt, den Ruin, den er über sein Volk bringt, halte ich nicht für das größte Unheil, welches er anrichtet; tausendmal gefährlicher ist nach meiner Ansicht das schlechte Beispiel, welches er giebt.

Wie Du weißt, habe ich mich auf einer Reise lange in Indien aufgehalten. Ich habe dort ein Beispiel gehabt, wie eine ursprünglich edel angelegte Nation in kürzester Frist vom niedrigsten bis zum höchststehenden der Unterthanen durch das böse Vorbild eines Ministers angesteckt wurde; ich habe dort ein ganzes Volk, bei dem großmütiger Sinn, Rechtschaffenheit, Wahrheitsliebe und Redlichkeit zu allen Zeiten als angeborene Charakterzüge galten, plötzlich zum letzten unter den Völkern hinabsinken sehen; ich habe beobachtet, wie die Krankheit um sich fraß und nicht einmal die gesündesten Glieder verschonte; wie die Tugendhaftesten unwürdige Thaten begingen und in allen Lebenslagen die obersten Grundsätze des Rechts verletzten, unter dem eitlen Vorwande, daß man auch ihr eigenes Recht verletzt habe.

Zur Rechtfertigung der größten Ruchlosigkeiten beriefen sie sich auf abscheuliche Gesetze, und die Ungerechtigkeit und Treulosigkeit erklärten sie für notwendig.

Ich sah die bindende Kraft der Verträge gebrochen, die heiligsten Übereinkünfte für nichts geachtet, alle Bande der Familien in den Staub gezogen. Ich sah, wie habsüchtige Schuldner, prahlend mit einer frechen Armut, unwürdige Werkzeuge der grausamen Gesetze und der schweren Zeit, Zahlung nur heuchelten, anstatt ihre Schuld wirklich einzulösen, und ihren Wohlthätern das Messer in die Brust stießen.

Andere, noch größere Schurken sah ich dürre Blätter fast um nichts einkaufen oder vielmehr sie von der Erde auflesen, um sie den Witwen und Waisen im Tausch gegen ihre Habe zu geben.

Ich sah, wie plötzlich aller Herzen von unersättlichem Verlangen nach Reichtümern ergriffen wurden. Meine Augen waren Zeugen, wie im Augenblicke eine verabscheuungswürdige Verschwörung entstand, sich zu bereichern, nicht durch ehrliche Arbeit und edlen Gewerbfleiß, sondern durch den Ruin des Fürsten, des Staates und der Mitbürger.

In jener Unglückszeit kannte ich einen ehrlichen Bürger, der Abends nie zur Ruhe ging, ohne zu sich zu sprechen: »Heute habe ich eine Familie zu Grunde gerichtet; morgen richte ich eine andere zu Grunde.«

»Ich werde,« sagte ein anderer, »unter Beihilfe eines schwarzen Mannes, der ein Schreibzeug in der Hand und ein spitzes Eisen hinter dem Ohre trägt, alle diejenigen umbringen, denen ich etwas schuldig bin.«

Noch ein andrer rieb sich vergnügt die Hände. »Ich sehe, daß ich mein Schäfchen nach und nach ins Trockne bringe,« sagte er. »Freilich habe ich, als ich vor drei Tagen eine gewisse Zahlung leistete, eine ganze Familie in Thränen zurückgelassen, habe die Mitgift zweier ehrbaren Mädchen verschwendet, habe einem Knaben die Mittel der Erziehung geraubt, und der Schmerz darüber wird seinen Vater töten, wie die Mutter ihrer Betrübnis schon erlegen ist. Aber ich habe nichts gethan, als wozu ich gesetzlich berechtigt bin.«

Kann es ein größeres Verbrechen geben, als das, welches ein Minister begeht, indem er die Sitten einer ganzen Nation verdirbt, die hochsinnigsten Geister erniedrigt, den reinen Glanz der Würden trübt, selbst die Tugend verdunkelt und den Höchstgeborenen in die allgemeine Verachtung hinabzieht?

Was soll die Nachwelt sagen, wenn sie über die Schmach ihrer Vorfahren wird erröten müssen? Wie wird das heranwachsende Geschlecht urteilen, wenn es das Eisen seiner Ahnen mit dem Golde derer vergleicht, welche die unmittelbaren Urheber seines Daseins sind? Ich hege keinen Zweifel daran, daß der Adel ein unwürdiges Zwischenglied, das seine edlen Häuser entehrt, aus seinen Stammbäumen streichen und die gegenwärtige Generation dem furchtbaren Nichts, in das sie sich gestürzt hat, überlassen, wird. Dieser Brief rekapituliert noch einmal zusammenfassend, was vorher zerstreut über das Unheil angedeutet wurde, welches durch den Kardinal Dübois als Minister und durch Law's Finanzschwindel über das Land gebracht worden. Die Anwendung auf Frankreich war nicht mißzuverstehen; und da der Regent wie sein Minister sich damals noch am Leben befanden, so ist Collin de Plancys Bemerkung wohlbegründet, daß diese Schilderung eine große Kühnheit war. Es sind Worte, eines Tacitus würdig.

Paris, am 11. des Mondes Rhamazan, 1720.



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