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Neunundneunzigster Brief.
Usbek an Ibben in Smyrna.

In keinem andren Lande der Welt ist das Glück so unbeständig wie in diesem hier. Alle zehn Jahre treten Umwälzungen ein, welche den Reichen in das Elend stürzen und den Armen mit schnellen Flügeln auf den Gipfel des Reichtums heben. Der eine staunt über seine Armut, der andre über seinen Überfluß. Der neue Reiche bewundert die Weisheit der Vorsehung, der Arme das blinde Verhängnis des Schicksals. Alles dies bezieht sich auf die schweren Verwicklungen, in die das Volk durch Law's Finanzsystem geriet. Die gesamten Finanzen des Staates beruhten auf einer Handelsgesellschaft, und der Regent beutete den Schwindelgeist, der alle ergriffen hatte, gewissenlos aus. Vergl. Brief 138, 142 und 146.

Diejenigen, welche die Steuern erheben, schwimmen in Schätzen; selten ist ein Tantalus unter ihnen. Und doch beginnen sie dies Gewerbe im äußersten Elend. Solange sie arm sind, werden sie dem Kote gleich geachtet; aber sind sie einmal reich geworden, so finden sie Achtung genug; auch versäumen sie nichts, um dieselbe zu gewinnen. »Die Finanzpächter erregen in uns stufenweise alle Empfindungen. Erst verachtet man sie, wegen ihrer dunklen Herkunft; dann beneidet, haßt, fürchtet man sie; bisweilen empfindet man Achtung gegen sie und respektiert sie; man lebt lange genug um sie endlich zu bemitleiden.« (La Bruyère, Charaktere, deutsch von Dr. Richard Hamel, Bd. 1, pg. 118.)

Gegenwärtig befinden sie sich in einer höchst schrecklichen Lage. Soeben hat man eine Kammer eingesetzt, welche die Justizkammer Die Justizkammer wurde 1716 zur Tilgung der Kronschulden eingesetzt. Diese wurden dann aus der königlichen Bank bezahlt. Gegen alle, welche sich Erpressungen oder Veruntreuungen öffentlicher Gelder nachsagen ließen, besonders gegen die Generalpächter, wurden strenge Untersuchungen eingeleitet. Die »königliche Bank« nahm später selbst die Generalpachten an sich. genannt wird, weil sie ihnen alle ihre Habe rauben will. Sie können ihre Güter weder unterschlagen noch verbergen; denn man zwingt sie bei Todesstrafe, dieselben auf Heller und Pfennig zu deklarieren. So treibt man sie durch einen gar engen Paß; sie müssen wählen zwischen dem Leben und ihrem Gelde. Und um ihrem Mißgeschick die Krone aufzusetzen, so ist ein durch seinen Geist bekannter Minister da, der sie mit seinen Witzen beehrt und über alle in den Sitzungen gepflogenen Beratungen seine Späße macht. »Der Generaldirektor der Finanzen Rouiller dü Coudray verfolgte mit seiner Spottsucht besonders die habgierigen Finanzpächter, deren Geißel und Schrecken er war.« Strodtmann. Man findet nicht alle Tage Minister, die ihr Vergnügen daran haben, das Volk zum Lachen zu bringen, und man muß es diesem Dank wissen, daß er es sich zur Aufgabe gemacht hat.

Die Zunft der Lakaien Dies bezieht sich auf Kardinal Dübois, den früheren Lehrer des Regenten, jetzt von diesem zum Minister erhoben. Derselbe war in seiner Jugend Bedienter des Kanzlers Le Tellier gewesen. Ebenso sittenlos wie der Regent, wurde er schon einige Monate vor diesem von einem plötzlichen Tode ereilt. Carlyle sagt von ihm: »– ein Kardinal mit einem Bocksgesicht, ehedem Kuppler und Lakai, die häßlichste der geschaffenen Seelen, Erzbischof von Cambrai mit göttlicher Erlaubnis und durch Beelzebubs Gunst.« (Hist. of Frederick the Great, II, book V, 3.) genießt in Frankreich höhere Achtung, als anderswo. Sie ist eine Pflanzschule großer Herren; sie ergänzt die Lücken in den übrigen Ständen. Ihre Mitglieder rücken an die Stelle der verunglückten Großen, der ruinierten Würdenträger, der in den Stürmen des Krieges umgekommenen Edelleute; und wenn solche Plätze nicht für sie selbst frei werden, so greifen sie allen vornehmen Familien unter die Arme, indem sie ihnen ihre Töchter geben; denn diese sind sozusagen eine Art Dünger, der die gebirgigen und dürren Felder befruchtet.

Ich finde, Ibben, daß die Vorsehung den Reichtum mit bewunderungswürdiger Weisheit verteilt hat. Hätte sie ihn nur an die braven Leute verliehen, so würde man ihn nicht hinreichend von der Tugend unterschieden und seine ganze Richtigkeit nicht empfunden haben. Überzeugt man sich aber genau, wer die Leute sind, die ihn im ausgedehntesten Maße besitzen, so lernt man zuerst die Reichen und dadurch auch den Reichtum verachten.

Paris, am 26. des Mondes Maharram, 1717.



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