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Neunzehnter Brief.
Usbek an seinen Freund Rustan zu Ispahan.

Wir haben uns nur acht Tage in Tokat aufgehalten und sind nach einer Reise von fünfunddreißig Tagen in Smyrna eingetroffen.

Nicht eine einzige Stadt »auf dem Wege von Tokat bis Smyrna verdient der Erwähnung. Mit Erstaunen habe ich die Schwäche des osmanischen Reiches wahrgenommen. Dieser kranke Körper Dieses Wort Montesquieu's ist der Ursprung des Beinamens »der kranke Mann« für die Türkei. erhält sich nicht durch eine milde und maßvolle Verwaltung, sondern durch gewaltsame Mittel, die ihn erschöpfen und unaufhörlich untergraben.

Die Paschas, welche ihre Ämter nur um schweres Geld erlangen, kommen ruiniert in die Provinzen und plündern sie aus wie eroberte Länder. Eine freche Militärbesatzung kennt kein Gesetz als ihre Launen. Die Festungen sind geschleift, die Städte ausgestorben, die Felder verwüstet, Ackerbau und Handel völlig außer Betrieb.

Und doch herrscht Straflosigkeit unter diesem Drucke der Regierung; denn die Christen, welche das Land bestellen, und die Juden, welche die Steuern eintreiben, sind tausendfachen Gewaltthätigkeiten ausgesetzt.

Der Grundbesitz ist unsicher und folglich das Bestreben, ihn zu verwerten, sehr gering. Weder Besitzurkunden noch Rechtstitel fallen gegen die Laune der Mächtigen ins Gewicht.

Diese Barbaren sind so ganz von allen Künsten abgefallen, daß sie selbst die Kriegskunst vernachlässigen. Während die europäischen Nationen sich täglich reicher entwickeln, verbleiben sie in ihrer hergebrachten Unwissenheit und bequemen sich erst dann, die neuen Erfindungen von jenen selbst einzuführen, wenn dieselben schon tausendmal zu ihrem Schaden gegen sie ins Treffen geführt sind.

Es fehlt ihnen Erfahrung zur See wie geschickte Taktik. Man erzählt, daß eine kleine Schar von Christen, die aus irgend einem Felsenneste Es ist von den Malteser-Rittern die Rede. stammen, allen Ottomanen saure Arbeit verursachen und ihr Reich ermüden.

Unfähig, selbst Handel zu treiben, dulden sie nur widerwillig, daß die immer thätigen und unternehmenden Europäer sich zum Betriebe desselben bei ihnen einfinden. Sie glauben diesen Ausländern eine Gunst zu erweisen, indem sie sich von ihnen bereichern lassen.

In dem ganzen weiten Ländergebiet, welches ich durchreist, habe ich außer Smyrna keine einzige Stadt angetroffen, die man reich und mächtig nennen könnte. Aber gerade diese verdankt den Europäern ihren Aufschwung, und die Türken haben kein Verdienst dabei, daß sie nicht allen übrigen gleich ist.

Dies, lieber Rustan, genügt, um Dir einen angemessenen Begriff von diesem Reiche zu geben, welches der Schauplatz der Triumphe eines Eroberers sein wird, ehe noch zwei Jahrhunderte vergehen Obwohl diese Schilderung der Türkei zu damaliger Zeit gewiß höchst treffend war, haben spätere Reisende doch auch manches Gute von ihren Bewohnern zu sagen gewußt. Im Jahre 1811 konnte Lord Byron schreiben, sie seien den Spaniern wenigstens gleich, und den Portugiesen überlegen. Er rühmte sogar ihre Industrie. (Siehe Anmerkung zu Childe Harold's Pilgrimage, II, 74.)

Smyrna, am 2. des Mondes Rhamazan, 1711.



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