Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundneunzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Der Monarch, der so lange regiert hat, ist nicht mehr. Ludwig XIV. starb am 1. September 1715. Solange er lebte, hat er den Leuten viel zu reden gegeben; nun er tot ist, schweigt alle Welt. Fest und standhaft bis zum letzten Augenblicke, schien er nur dem Verhängnis zu weichen. Er starb wie der große Schah Abbas, nachdem er seinen Ruhm über den ganzen Erdkreis verbreitet hatte.

Du darfst indessen nicht glauben, daß dies große Ereignis die Leute hier nur zu moralischen Betrachtungen gestimmt habe. Jeder dachte an seine eigenen Interessen und an den Vorteil, den er aus dieser Veränderung ziehen könnte. Da der neue König, ein Urenkel des verstorbenen Monarchen, erst fünf Jahre alt ist, so wurde ein Prinz, sein Oheim, zum Regenten des Reiches ernannt. Herzog Philipp von Orleans, ein Enkel Ludwigs XIII., war der Sohn der Pfalzgräfin Elisabeth Charlotte. Durch das Testament Ludwigs XIV. zum Regenten für den unmündigen Herzog von Anjou, den späteren Ludwig XV., ernannt, stieß er im Einvernehmen mit dem Parlament die ihn beschränkenden testamentarischen Bestimmungen um und nahm kraft seiner Geburtsrechte Besitz von der höchsten Staatsgewalt. Infolge seines ausschweifenden Lebens starb er schon im Jahre 1723. Ran sagt von ihm: »Unter allen Abkömmlingen der damaligen Dynastien gab es keinen von mannigfaltigeren Fähigkeiten als diesen Prinzen.« Dem Parlament verlieh er wieder das alte Recht, über die Edikte des Königs zu beraten und dagegen zu remonstrieren.

Der verstorbene König hat in seinem Testament die Befugnisse des Regenten beschränkt; aber dieser gewandte Prinz ist im Parlament erschienen, hat vor demselben alle Rechte seiner Geburt dargelegt und es bewogen, die Bestimmungen des Monarchen, der sich selbst überleben und noch nach seinem Tode regieren wollte, für ungültig zu erklären. Daß Ludwig XIV. die Macht des Regenten beschränken wollte, war weise Voraussicht, nachdem Fénelon's trefflicher Schüler, der Dauphin, gestorben, und auf diese Weise Frankreich des Mannes beraubt war, der ihm notthat. »Nun aber nach wenigen jammervollen Jahren statt unseres Bourgogne der Held aller Ausschweifungen, Orleans, und statt des staatsklugen Fénelon's der ruchloseste der Menschen, Du Bois, ans Ruder. Die ewige Unmündigkeit Ludwig des Vielgeliebten folgte, und wie es seitdem in Frankreich beschaffen gewesen, ist welt- und staatskundig.« (Herder, Werke zur Phil. u. Gesch., Bd. 13, S. 168.)

Die Parlamente gleichen den Trümmern, über die unser Fuß hinwegschreitet, aber die uns immer an irgend einen durch die alte Religion der Völker berühmten Tempel erinnern. Ihre Thätigkeit hat sich fast ganz auf die Rechtspflege beschränkt, und ihr Ansehen stirbt langsam dahin, wenn ihm nicht irgend ein unvorhergesehenes Zusammentreffen von Umständen neue Lebenskraft verleiht. Diese großen Körperschaften haben das Los aller menschlichen Einrichtungen geteilt; die alles zerstörende Zeit, die alles entnervende Sittenverderbnis und die alles beugende absolute Gewalt hat sie verdrängt.

Aber der Regent, welcher sich bei dem Volke beliebt zu machen suchte, gab sich bei seinem ersten Auftreten den Anschein, als wolle er dies Bild der öffentlichen Freiheit in Ehren halten; und als ob er im Sinne hätte, Tempel und Götterbild aus dem Schutt wieder aufzurichten, forderte er, daß man sie als die Stütze der Monarchie und die Grundlage aller gesetzlichen Autorität betrachte. Später war Montesquieu's Ideal die parlamentarische Regierung nach englischem Muster. Und zwar haben die Engländer nach seiner Meinung dies Muster von den alten Germanen, wie sie Tacitus schildert, entnommen. »Dies schöne System ist in den Wäldern erfunden worden,« sagt er. (Vergl. »Geist der Gesetze« XI, 18.)

Paris, am 4. des Mondes Rhegeb, 1715.



 << zurück weiter >>