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Achtundvierzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Wer sein Wissen zu bereichern wünscht, ist niemals müßig. Obwohl ich hier nichts von Wichtigkeit zu thun habe, bin ich doch fortwährend beschäftigt. Meine Tage sind der Beobachtung gewidmet, und Abends schreibe ich auf, was ich den Tag über bemerkt, gesehen und gehört habe. Alles interessiert, alles überrascht mich; ich bin wie ein Kind, dessen zarte Sinnesorgane von den geringfügigsten Eindrücken lebhaft erregt werden.

Kaum wirst Du es glauben, wenn ich dir erzähle, daß wir in allen Gesellschaften und Vereinen die angenehmste Aufnahme gefunden haben. Ich vermute, daß wir dies zum großen Teil der geistigen Lebhaftigkeit und natürlichen Heiterkeit Rica's zu verdanken haben; denn sein Charakter bewirkt, daß er gern mit jedermann, und daß jedermann gern mit ihm verkehrt. Unsre ausländischen Sitten sind niemandem mehr anstößig; oft finden wir sogar zu unserer Belustigung, daß die Leute überrascht sind, eine gewisse Höflichkeit bei uns zu entdecken; denn die Franzosen können sich gar nicht vorstellen, daß auch unser Klima Menschen hervorbringt. Indessen muß man gestehen, daß es der Mühe wert ist, ihre Ansicht zu berichtigen.

Ich habe einige Tage in einem Landhause in der Umgebung von Paris bei einem angesehenen Manne verlebt, dem es große Freude macht, Gäste bei sich zu sehen. Er hat eine sehr liebenswürdige Frau, deren weibliche Züchtigkeit sich mit einem heitren Wesen vereint, welches unsre persischen Damen bei ihrer eingezogenen Lebensweise niemals bewahren.

Als ein Fremder hatte ich nichts Besseres zu thun, als nach meiner Gewohnheit an dem Menschenschwarm, der dort unaufhörlich aus- und einging und mir immer neue Charaktere zeigte, meine Studien zu machen. Bald wurde ich auf einen Mann aufmerksam, dessen einfache Art mich anzog; und da auch er an mir Gefallen fand, so waren wir in kurzem unzertrennliche Gesellschafter.

Als wir uns eines Tages abseits von dem großen Kreise der Gäste unterhielten, ohne an dem allgemeinen Gespräche teilzunehmen, sagte ich zu ihm: »Vielleicht werden Sie finden, daß meine Neugier größer ist als meine Höflichkeit; aber ich bitte Sie, mir einige Fragen zu gestatten; denn es ist mir peinlich, überall im Dunklen zu tappen und mit Leuten zu leben, aus denen ich nicht klug werden kann. Schon seit zwei Tagen zerbreche ich mir den Kopf über alle diese Menschen; es ist kein einziger unter ihnen, der mich nicht schon öfter als zweihundertmal auf die Folter gespannt hätte; und doch würde ich sie in tausend Jahren nicht enträtseln; sie sind geheimnisvoller für mich als die Frauen unseres großen Monarchen.«

»Sagen Sie mir nur, was Sie zu wissen wünschen,« antwortete er; »ich werde Sie über alles aufklären, und um so mehr, da ich überzeugt bin, daß Sie verschwiegen sind und mein Vertrauen nicht mißbrauchen werden.«

»Wer ist der Mann dort,« fragte ich ihn, »der uns so viel von den Gastmählern erzählte, die er den Großen gegeben hat, der auf so vertrautem Fuße mit Ihren Herzogen lebt und sich so häufig mit Ihren Ministern unterhält, die, wie ich höre, so schwer zugänglich sein sollen? Er muß wohl von vornehmem Stande sein; aber sein Gesichtsausdruck ist so gemein, daß er den Vornehmen keine besondere Ehre macht; und übrigens scheint er mir auch keine Bildung zu haben. Ich bin ein Ausländer; aber ich meine doch, daß es einen gewissen gesellschaftlichen Anstand giebt, der allen Nationen gemeinsam ist; und eben diesen vermisse ich an ihm. Sollten wohl Ihre Vornehmen weniger gebildet sein als andere Leute?«

»Der Mann,« versetzte er lachend, »ist ein Generalpächter. Durch seine Reichtümer steht er so hoch über allen andren Leuten, als er durch seine Herkunft unter ihnen steht. Sein Tisch würde der beste in Paris sein, wenn er sich entschließen könnte, niemals mitzuessen. Er ist ziemlich unverschämt, wie Sie sehen; aber er zeichnet sich durch die Kunst seines Koches aus. Auch ist er gegen diesen nicht undankbar; Sie haben ja gehört, wie er ihn heut den ganzen Tag gelobt hat.«

»Und jener Dicke im schwarzen Rock,« fuhr ich fort, »den die Dame dort genötigt hat, sich zu ihr zu setzen? Wie stimmt dies Trauerkleid zu seiner fröhlichen Miene und zu seiner blühenden Gesichtsfarbe? Er lächelt huldvoll, so oft man zu ihm spricht, und sein Anzug ist bescheidener, aber zierlicher geordnet, als der Putz Ihrer Frauen.«

»Das,« war die Antwort, »ist ein Prediger und, was noch schlimmer ist, ein Beichtvater. So wie Sie ihn da sehen, weiß er mehr als die Ehemänner. Er kennt die Schwächen der Weiber; aber sie wissen auch, daß er die seinigen hat.«

»Dann spricht er wohl immer von jenem Dinge, welches er die Gnade nennt?« fragte ich.

»Nicht immer,« antwortete mein Führer. »Einer hübschen Frau flüstert er noch lieber etwas von ihrem Falle ins Ohr. Öffentlich donnert er; aber im geheimen ist er sanft wie ein Lamm.«

»Augenscheinlich,« versetzte ich darauf, »zeichnet man ihn sehr aus und behandelt ihn mit vieler Rücksicht.«

»Rücksicht? Das wollt' ich meinen! Er ist ja ein unentbehrlicher Mann; er versüßt das zurückgezogene Leben! Hilft er nicht mit guten kleinen Ratschlägen, mit dienstfertiger Fürsorge, mit eigenartigen Besuchen? Der vertreibt den Kopfschmerz besser als der beste Arzt aus der Welt; o, das ist ein ausgezeichneter Mann.«

»Aber wenn es Ihnen nicht lästig ist, so sagen Sie mir doch, wer ist das dort gegenüber? Er ist dürftig gekleidet, schneidet zuweilen Gesichter und redet eine ganz besondere Sprache. Es fehlt ihm an Geist, um zu sprechen; aber er spricht doch fortgesetzt, um geistreich zu sein.«

»Das ist ein Dichter und eine Karrikatur des menschlichen Geschlechts,« berichtete mein gefälliger Erklärer. »Solche Leute sagen, sie seien zu dem, was sie sind, geboren, und das ist wahr; aber nicht nur zu dem, was sie sind, sondern was sie ihr ganzes Leben lang bleiben werden, nämlich fast immer die lächerlichsten aller Menschen. Natürlich schont man sie auch nicht; man überschüttet sie aus vollen Händen mit Verachtung. Diesen hier hat der Hunger in dies Haus getrieben, und der Hausherr wie seine Frau haben ihn freundlich aufgenommen; denn ihre Güte und Höflichkeit wüßte sich gegen niemand zu verleugnen. Als sie sich verheirateten, machte er das Hochzeitsgedicht, und das ist das Beste, was er in seinem Leben gethan hat; denn die Ehe ist wirklich so glücklich geworden, wie er es prophezeit hatte.«

»Vielleicht werden Sie es mir nicht glauben wollen« fügte er hinzu, »erfüllt wie Sie sind von den Vorurteilen des Morgenlandes: es giebt wirklich glückliche Ehen bei uns, und Frauen, die in ihrer Tugend einen strengen Hüter finden. Die Leute, von denen wir reden, leben mit einander in einem Frieden, den nichts zu stören vermag, und sie genießen Liebe und Achtung bei aller Welt. Nur eins könnte man an ihnen aussetzen, nämlich die bunte Mischung von allerlei Volk, die sie in ihrer Güte bei sich empfangen; denn so findet man zuweilen schlechte Gesellschaft bei ihnen. Übrigens mache ich ihnen keinen Vorwurf daraus; man muß mit den Menschen leben, wie sie sind. Die Leute, welche man die gute Gesellschaft nennt, zeichnen sich oft nur durch die größere Verfeinerung ihrer Laster aus, und vielleicht verhält es sich mit diesen wie mit den Giften, von denen die feinsten auch die gefährlichsten sind.«

»Und dieser Alte, der so mürrisch aussieht?« fragte ich leise. »Ich hielt ihn zuerst für einen Ausländer; denn er ist nicht allein anders gekleidet als die übrigen, sondern er hat auch ein absprechendes Urteil über alles, was in Frankreich geschieht, und mißbilligt die Politik Ihrer Regierung.«

»Das ist ein alter Krieger,« lautete die Auskunft, »der sich bei allen, die ihm zuhören, durch die langen Schilderungen seiner Heldenthaten denkwürdig macht. Es ist ihm unerträglich, daß Frankreich Schlachten gewonnen haben soll, an denen er nicht teilgenommen, oder daß man eine Belagerung rühmt, bei welcher er nicht den Wall erstieg. Er hält sich für so unentbehrlich in unserer Geschichte, daß er sich einbildet, sie müsse da enden, wo es mit ihm zu Ende war. Einige Wunden, welche er davongetragen, betrachtet er als die Auflösung der Monarchie; und im Gegensatze zu jenen Philosophen, welche behaupten, man genieße nur die Gegenwart, und die Vergangenheit existiere nicht, genießt er nur die Vergangenheit und lebt nur in den Feldzügen, die er mitgemacht hat. Er atmet in verflossenen Zeiten, wie die Helden bei ihrer Nachwelt leben sollen.«

»Aber warum hat er den Dienst verlassen?« warf ich ein.

»Er hat nicht den Dienst, sondern der Dienst hat ihn quittiert,« war die Antwort. »Man hat ihm einen kleinen Ruheposten gegeben, wo er bis ans Ende seiner Tage von seinen Thaten sprechen kann; aber er wird niemals aufrücken; die Bahn der Ehre ist ihm verschlossen.«

»Weswegen denn?« fragte ich.

»Es ist unser Grundsatz in Frankreich,« erwiderte er, »keine Offiziere zu höheren Stellen zu befördern, die sich in untergeordneten Diensten aufgerieben haben. Wir betrachten sie als Leute, deren Geist in steter Beschäftigung mit Kleinigkeiten eingeschrumpft ist, und die, an das Kleine gewöhnt, unfähig geworden sind für das Große. Wir glauben, daß ein Mann, der nicht mit dreißig Jahren die Eigenschaften eines Generals besitzt, sie niemals haben wird; daß, wem das überschauende Auge fehlt, welches mit einem Blicke ein meilenweites Gebiet in allen seinen verschiedenen Verhältnissen beherrscht, und wer jener Geistesgegenwart ermangelt, die im Siege alle Vorteile, in der Niederlage alle Hilfsmittel wahrzunehmen weiß, diese Talente nie erwerben wird. Aus diesem Grunde haben wir glänzende Ämter für die großen und erhabenen Männer, die der Himmel nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit dem Genie eines Helden ausgestattet hat; und untergeordnete Ämter für diejenigen, die nur untergeordnete Talente haben. Zu dieser Klasse gehören die Leute, die in einem ruhmlosen Kriege alt geworden sind; alles, wozu sie befähigt sind, ist, zu thun, was sie ihr Leben lang gethan haben; und es ist zu spät, höhere Anforderungen an sie zu stellen, wenn ihre Kräfte nachlassen.«

Bald darauf trieb mich meine Neugierde zu einer anderen Frage. »Ich verspreche Ihnen,« sagte ich, »Sie weiter nicht zu belästigen, wenn Sie mir nur noch ein Wort gestatten wollen. Wer ist dort der große junge Mann mit langen Haaren, wenig Geist und viel Ungezogenheit? Warum redet er lauter als andere Leute und thut sich so viel darauf zu Gute, daß er auf der Welt ist?«

»Das ist ein Glücksritter,« entgegnete er. Als er noch sprach, traten neue Gäste herein, andere verabschiedeten sich, man erhob sich, jemand zog meinen Freund ins Gespräch, und ich wußte nicht mehr als zuvor. Gleich darauf aber – ich weiß wirklich nicht, durch welchen Zufall – fand ich den jungen Mann mir zur Seite, und er redete mich an.

»Es ist schönes Wetter,« sagte er. »Haben Sie keine Lust, mein Herr, einen Gang durch den Garten zu machen?« Ich antwortete ihm so höflich wie möglich, und wir begaben uns mit einander ins Freie.

»Ich bin aufs Land gekommen,« erzählte er mir, »um der Frau vom Hause, mit der ich nicht schlecht stehe, ein Vergnügen zu machen. Eine gewisse Dame in der vornehmen Welt wird freilich etwas darüber brummen; aber was thuts? Ich komme mit den hübschesten Frauen von Paris zusammen; aber ich kette mich an keine und führe sie alle an der Nase herum; denn, unter uns, ich bin ein wenig leichtsinnig.«

»Vermutlich, mein Herr,« erwiderte ich, »hindern Sie die Pflichten Ihres Amtes, beharrlicher in Ihren Bewerbungen zu sein?«

»Nein, mein Herr,« versetzte er, »ich habe weiter kein Geschäft, als Ehemänner wütend zu machen oder Väter zur Verzweiflung zu bringen. Es macht mir Spaß, eine Frau, die mich zu besitzen meint, zu ängstigen, bis sie wähnt, sie habe mich beinahe verloren. Wir sind einige wenige junge Leute, die ganz Paris in Unruhe versetzen; wir wissen es für unsere geringsten Schritte zu interessieren.«

»Soweit ich die Sache verstehe,« gab ich ihm zur Antwort, »machen Sie also größeres Aufsehen als der tapferste Krieger, und man behandelt Sie mit größerer Rücksicht als eine ehrwürdige Magistratsperson. Wären Sie in Persien, so würden Sie keine solchen Vorzüge genießen; Sie würden sich bald besser dazu eignen, unsere Damen zu hüten, als ihnen zu gefallen.« Das Blut stieg mir ins Gesicht, und ich glaube, wenn ich nicht geschwiegen hätte, so würde ich mich nicht haben enthalten können, ihm die bittersten Wahrheiten zu sagen. Trotzdem darf man diese Schilderung zum Teil auf Montesquieu selbst anwenden, wenigstens zu jener Zeit. »Daß er den aphrodisischen Sport, die Jagd auf Damen, berufsmäßig betrieb, ist nunmehr eine dokumentarisch beglaubigte Thatsache« (Schvarcz, a. a. O.) So ist, auch sein »Temple de Guide« ein Leitfaden der frivolen Galanterie, wie manche Stellen in den Briefen seines Freundes Lord Chesterfield, – eine »Ars amandi« Ovids unter den Voraussetzungen des achtzehnten Jahrhunderts.

Was denkst Du von einem Lande, wo man solche Leute duldet, und wo ein Mensch leben darf, der ein solches Gewerbe betreibt? wo man durch Treulosigkeit, Verrat, Entführung, Eidbruch und Ungerechtigkeit zu Ansehen gelangt? wo man einem Elenden Achtung erweist, weil er einem Vater seine Tochter, einem Manne sein Weib raubt und das süßeste, heiligste Bündnis zerreißt? Glücklich die Kinder Ali's, die ihre Familien vor Schmach und Verführung sichern! Das Licht des Tages ist nicht reiner als das Feuer, welches in dem Herzen unserer Frauen brennt; unsere Töchter denken nur mit Zittern an den Tag, der sie jener Tugend berauben soll, durch welche sie den Engeln und den körperlosen Geistern ähnlich sind. Geliebtes Heimatland, das die ersten Strahlen der Sonne begrüßen, du bist nicht von jenen schauderhaften Verbrechen befleckt, vor welchen dies Gestirn sich verbirgt, sobald es im schwarzen Abendlande erscheint.

Paris, am 5. des Mondes Rhamazan, 1713.



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