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Fünfzigster Brief.
Rica an ***.

Ich habe Leute gekannt, denen die Tugend etwas so Natürliches war, daß sie sich nicht einmal bemerklich machte. Sie erfüllten ihre Pflicht, ohne daß es ihnen Überwindung gekostet hätte, gleichsam instinktiv. Weit entfernt, sich ihrer seltenen Eigenschaften zu rühmen, schienen sie sich derselben gar nicht bewußt zu sein. Solche Leute gefallen mir, nicht aber jene gespreizten Tugendhaften, die von ihrer eignen Tugend überrascht erscheinen und jede gute Handlung wie ein staunenswertes Wunder ansehen.

Wenn selbst diejenigen der Bescheidenheit bedürfen, denen der Himmel große Talente verliehen hat, was läßt sich dann von jenem Gewürm sagen, welches einen Stolz zur Schau zu tragen wagt, der den größten Männern zur Schande gereichen würde?

Überall sehe ich Leute, die unaufhörlich von sich selbst reden. Ihre Gespräche sind ein Spiegel, aus welchem immerfort ihr anmaßendes Gesicht hervorschaut. Sie erzählen einem ihre geringfügigsten Erlebnisse und erwarten, daß uns dieselben bedeutend vorkommen werden, weil sie ihnen begegnet sind. Sie haben alles gethan, alles gesehen, alles gesagt, alles gedacht; sie sind ein Muster für die ganze Welt, ein unerschöpflicher Stoff zu Vergleichungen, ein unversieglicher Quell guter Beispiele. O, wie schal ist das Lob, wenn es den beleuchten soll, von dem es ausgeht!

Vor einigen Tagen überschüttete uns ein Mensch von diesem Schlage zwei Stunden lang mit solchem Geprahl über sich selbst, seine Verdienste und seine Talente. Aber da nichts in der Welt in beständiger Bewegung bleibt, so erreichte auch sein Geschwätz endlich ein Ende, und es war uns wieder möglich, das Wort zu nehmen.

Es war jemand zugegen, der ziemlich verdrießlich zu sein schien und sich über die langweiligen Unterhaltungen zu beklagen begann. »Was!« brummte er; »giebt es denn überall Narren, die sich selbst beräuchern und alles auf sich beziehen?« – »Sie haben Recht,« erwiderte unser Prahlhans mit lebhaftem Beifall. »Man sollte es machen wie ich; ich lobe mich niemals. Ich bin vermögend, von gutem Herkommen, lasse etwas daraufgehen, und meine Freunde meinen, ich sei nicht ohne Geist; aber von alledem rede ich niemals. Wenn ich einige gute Eigenschaften besitze, so befleißige ich mich doch am meisten der Demut.«

Ich bewunderte diese Unverschämtheit, und während er in seiner lauten Weise fortfuhr, flüsterte ich: »Glücklich, wer eitel genug ist, niemals gutes von sich zu sagen; wer Scheu empfindet vor denen, die ihn hören; wer sein Verdienst nicht durch Wetteifer mit dem Dünkel der Andern beeinträchtigt!«

Paris, am 20. des Mondes Rhamazan, 1713.



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