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Sechster Brief.
Usbek an seinen Freund Nessir in Ispahan.

Eine Tagereise von Erivan verließen wir Persien und gelangten in die unter türkischer Herrschaft stehenden Provinzen. Zwölf Tage später trafen wir in Erzerum ein, wo wir uns drei oder vier Monate lang aufhalten werden.

Ich muß es Dir gestehen, Nessir, ich empfand einen geheimen Schmerz, als ich Persien aus den Augen verlor und mich mitten unter den treulosen Osmanen sah. Je weiter ich in das Land dieser Gottlosen eindrang, desto mehr schien es mir, als ob ich selbst gottlos würde Vergl. das Ende des sechzigsten Briefes. Zwischen Türken und Persern besteht ein ebenso großer Sektenhaß, wie er viele christliche Denominationen wegen geringfügiger äußerlicher Meinungsunterschiede getrennt hat; die Perser ehren Ali besonders hoch, die Türken hingegen die drei Nachfolger Muhameds, Abubekr, Omar und Osman, welche von den ersteren als Usurpatoren angesehen werden..

Mein Vaterland, meine Familie, meine Freunde traten mir vor die Seele; lebhaft erwachte meine zärtliche Sehnsucht; eine eigentümliche Unruhe machte das Maß meines seelischen Zwiespalts voll und ließ mich erkennen, daß ich mehr unternommen habe, als für meinen Frieden gut ist.

Am meisten aber trauert mein Herz um meine Frauen. Ich kann nicht an sie denken, ohne daß der Kummer an mir nagt.

Nicht als ob ich sie liebte, Nessir; in dieser Hinsicht bin ich unempfindlich geworden, und die Begierden haben mich verlassen. In dem weiberreichen Serail, in welchem ich gelebt, bin ich der Liebe zuvorgekommen und habe sie durch sich selbst zerstört; aber gerade meine Kälte erzeugt eine geheime Eifersucht, die mich verzehrt. Ich sehe eine Schaar von Frauen, die sich beinahe selbst überlassen sind; nur sklavische Seelen sind mir für sie verantwortlich. Selbst wenn meine Sklaven treu wären, würde ich mich schwerlich sicher fühlen; aber wie erst, wenn sie es nicht sind? Welche traurigen Nachrichten über alles dies können mir in die fernen Länder, die ich bereisen will, nachfolgen! Das ist ein Leiden, für welches meine Freunde kein Heilmittel haben; das ist ein wunder Fleck, von dessen traurigen Geheimnissen sie Nichts wissen dürfen. Und was könnten sie auch dagegen thun? Würde ich nicht verborgene Straflosigkeit einer auffallenden Züchtigung tausendmal vorziehen? In Dein Herz, mein lieber Nessir, schütte ich allen meinen Kummer aus; das ist der einzige Trost, der mir in meinem gegenwärtigen Zustande geblieben ist.

Erzerum, am 10. des zweiten Mondes Rebiab, 1711.



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