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Hundertunderster Brief.
Rica an denselben.

Neulich schrieb ich Dir über die fabelhafte Unbeständigkeit der Franzosen in ihren Moden. Indessen ist es unbegreiflich, bis zu welchem Grade sie davon eingenommen sind; nach dieser Richtschnur beurteilen sie alles, was bei anderen Nationen geschieht; alles betrachten sie unter diesem Gesichtspunkte; alles Fremde erscheint ihnen lächerlich. Ich muß Dir gestehen, ich weiß mir diese leidenschaftliche Parteilichkeit für ihre Trachten mit der Unbeständigkeit nicht zusammenzureimen, mit welcher sie dieselben täglich wechseln.

Wenn ich Dir sage, daß sie alles Fremde verachten, so meine ich damit nur den kleinlichen Tand; denn in allem, was von Wichtigkeit ist, scheinen sie sich bis zur Sechsterniedrigung zu mißtrauen. Sie geben ohne Rückhalt zu, daß die übrigen Völker vernünftiger sind, als sie, wenn man ihnen nur das Zugeständnis macht, daß sie sich besser kleiden; gern wollen sie sich den Gesetzen einer mit ihnen wetteifernden Nation unterwerfen, wenn nur den französischen Perückenmachern das Recht verbleibt, als Gesetzgeber über die Form der ausländischen Perücken zu entscheiden. Nichts gleicht bei ihnen dem Hochgefühl, mit dem sie den Geschmack ihrer Köche vom Norden bis zum Süden die Herrschaft führen und die Machtsprüche ihrer Putzmacherinnen an allen Putztischen Europas in Kraft sehen.

Was verschlägt es ihnen, da sie sich so edler Vorzüge rühmen können, ob der gesunde Menschenverstand ihnen von auswärts komme, und ob sie ihren Nachbarn ihr ganzes staatliches und bürgerliches Verwaltungssystem verdanken?

Wer sollte wohl glauben, daß das älteste und mächtigste Königreich in Europa seit mehr als zehn Jahrhunderten mit Gesetzen regiert wird, die gar nicht für dasselbe bestimmt waren? Vergl. das Ende des 79. Briefes. Es würde leicht erklärlich sein, wenn die Franzosen eine unterjochte Nation wären; aber sie sind die Eroberer.

Sie haben die alten, von ihren ersten Königen in den allgemeinen Volksversammlungen aufgestellten Gesetze preisgegeben; und sonderbarer Weise stammten die römischen Gesetze, die sie dagegen annahmen, ganz oder zum Teil von jenen Kaisern, welche die Zeitgenossen ihrer eigenen Gesetzgeber waren. Montesquieu's Angaben sind nicht ganz korrekt. Obwohl die als Corpus juris bekannte Sammlung der alten römischen Gesetze erst unter dem byzantinischen Kaiser Justinian in den Jahren 533–34 zusammengestellt wurde, war das römische Recht doch nie aus Gallien verschwunden, seitdem die Römer daselbst Herrscher gewesen. Aus der Zeit des Frankenkönigs Chlodwig (481–511), oder nach Gibbon vielleicht schon aus der Ära vor dem sagenhaften König Pharamund (421), rühren die salischen Gesetze her; doch behielten die Rechtsbestimmungen des Frankenreichs das Meiste aus der Römerzeit bei. Die Capitularien Karls des Großen ruhten auf germanischer Grundlage, waren aber auch dem römischen Recht nicht abgeneigt. Montaigne sagt: »Ich bin dem Glücke dankbar, daß es nach Angabe unsrer Geschichtschreiber ein gasconischer Edelmann, also ein Landsmann von mir war, der sich zuerst Karl dem Großen widersetzte, als dieser uns lateinische und kaiserliche Gesetze geben wollte.« (Essais, I, 22.) Nach dem Vertrag von Verdun konnten sich die Capitularien im eigentlichen Frankreich nicht erhalten, und das römische Recht, als ein ausgebildetes wissenschaftliches System, mußte allmählich die Oberhand gewinnen, um »zehn Jahrhunderten der Anarchie«, wo die verschiedensten Gesetze zusammen bestanden, ein Ende zu machen. (Vergl. Gibbon, Decline und Fall of the Roman Empire, chap. XXXVIII; dazu auch Montesquieu, »Geist der Gesetze«, XVIII, 22 ff.)

Und zur Vervollständigung ihrer fremden Erwerbungen, und um allen Verstand von auswärts zu beziehen, haben sie sämtliche Verordnungen der Päpste anerkannt und daraus einen neuen Teil ihres Rechts gemacht: eine neue Art von Knechtschaft. Das römisch-kanonische Recht des Klerus (1234).

Allerdings hat man in neuerer Zeit einige städtische und Provinzial-Verfassungen zu Papier gebracht; aber sie sind fast ausnahmslos Entlehnungen aus dem römischen Recht.

Diese Überfülle von adoptierten und, so zu sagen, naturalisierten Gesetzen ist so groß, Schon Montaigne sagte: »Wir haben in Frankreich mehr Gesetze, als die ganze übrige Welt zusammengenommen, und mehr als genug, um alle Welten des Epikurus zu regieren« (Essais, III, 13.) daß sie das Recht und die Richter gleich schwer bedrückt. Aber diese Bände von Gesetzen sind nichts im Vergleich zu jenem entsetzlichen Heer von Glossatoren, Glossatoren heißen die Schüler des Irnerius, die auf der Rechtsschule zu Bologna das römische Recht wissenschaftlich bearbeiteten. Kommentatoren und Kompilatoren, Leuten, die an Urteilskraft so schwach, wie stark durch ihre fabelhafte Zahl sind.

Aber das ist noch nicht alles. Diese ausländischen Gesetze haben Formalitäten eingeführt, die eine Schande für die menschliche Vernunft sind. Es dürfte sich schwer entscheiden lassen, ob das Formenwesen verderblicher gewirkt hat, als es sich der Rechtswissenschaft bemächtigte, oder als es sich in der Heilkunde einnistete; ob es unter dem Talar eines Rechtsgelehrten mehr Verwüstungen angerichtet, als unter dem großen Hut eines Arztes; und ob es in dem einen mehr Leute ruiniert, als es in dem andren umgebracht hat. Napoleon I. hat die französischen Gesetze mit Hilfe von hervorragenden Rechtskundigen reformiert. Aber, sagt Channing, »diese gelehrten Männer haben nur geringen Anspruch auf Originalität; denn, wie Walter Scott im ›Leben Napoleons‹ bemerkt, ›der Code Napoléon besitzt wenige Eigentümlichkeiten, die seine Grundsätze von denen des römischen Rechts unterscheiden.‹ Mit andren Worten, sie gaben der Weisheit den Vorzug vor der Neuheit.« (Life and Character of Napoleon Bonaparte.)

Paris, am 17. des Mondes Saphar, 1717.



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