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Dreiunddreißigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Der Wein ist in Paris durch die darauf gelegten Steuern so verteuert, als hätte man es darauf abgesehen, hier die Vorschriften des göttlichen Alkoran, welcher den Genuß desselben verbietet, zur Ausführung zu bringen.

Wenn ich an die unheilvollen Wirkungen dieses Getränkes denke, kann ich nicht umhin, es als das verhängnisvollste Geschenk zu betrachten, welches die Natur den Menschen gegeben. Hat irgend etwas das Leben und den Ruhm unserer Monarchen untergraben, so war es ihre Unmäßigkeit; diese ist die giftigste Quelle ihrer Ungerechtigkeiten und ihrer Grausamkeiten.

Zur Schande der Menschheit muß ich es sagen: Das Gesetz verbietet unseren Fürsten den Genuß des Weines, und sie trinken ihn in einem Übermaße, Schon bei den alten Persern war das Trinken sehr im Schwange. Cyrus führte als einen seiner Vorzüge vor seinem Bruder Artaxerxes an, daß er besser zu trinken verstehe als dieser (Plutarch, Vita Artaxerxis, II), und Herodot (I, 133) erzählt, daß die Perser sich einen Rausch tranken, ehe sie sich in Beratungen einließen. Strodtmann bemerkt, daß Schah Hussein, welcher zur Zeit der Abfassung dieses Briefes König von Persien war, dem Laster der Völlerei erlag. das sie unter die Menschheit herabwürdigt. Den christlichen Fürsten dagegen ist dieser Genuß gestattet, und man kann nicht behaupten, daß sie dadurch zu Ausschreitungen verführt würden. Der menschliche Geist ist ein ewiger Widerspruch. In schrankenloser Völlerei verachtet man mit wildem Trotze die Gebote, und das Gesetz, welches uns besser machen soll, dient oft nur dazu, unsere Schuld zu vermehren.

Aber wenn ich den Genuß dieses Getränkes mißbillige, welches uns den Verstand raubt, so spreche ich damit nicht zugleich solchen das Urteil, die unser Herz erfreuen. Das ist ein Zeichen von der Weisheit des Morgenlandes, daß wir mit gleichem Eifer nach einer Arzenei für die Traurigkeit suchen, wie für die gefährlichsten Krankheiten. Wird ein Europäer von einem Unglück betroffen, so bleibt ihm keine andere Zuflucht, als die Lektüre eines Philosophen namens Seneca. Da sind wir Asiaten doch vernünftiger, und bessere Ärzte; wir nehmen einen Trank, der den Menschen fröhlich macht und die Erinnerung unserer Leiden verscheucht. Wenn Senecas Philosophie die Kraft besitzt, das Gemüt zu beruhigen, was wohl eine Frage des persönlichen Charakters ist, so dürfte obige Polemik dagegen nicht stichhaltig sein. Aber schon Francis Bacon leugnete diese Kraft und erklärte die stoische Selbstbeherrschung für eitel Prahlerei (Siehe Essays civil and moral, Of Anger). Da uns Montesquieu nichts Näheres über jene persischen »Getränke« mitteilt, so übersetzen wir hier das Rezept eines Heiltrankes aus Bacon's Medical Remains:
     »Wein gegen widrige Melancholie, zur Erhaltung der Sinne und der Vernunft.
     Man nehme die Wurzeln von Ochsenzunge (Anchusa L.), schabe sie gehörig ab, reinige sie von ihrem inneren Mark und schneide sie in dünne Scheiben; weiche diese in Rießwurzsaft ein, nachdem er ut supra gegohren, und füge drei Gran Salpeter hinzu; dann trinke man die Lösung ut supra mit frischem Wein gemischt. Die Wurzeln dürfen nicht länger als eine Viertelstunde ziehen und müssen dreimal erneuert werden.« (Works, vol. I, London 1837, pg. 250.)

Das sind die leidigsten Trostgründe, die sich auf die Notwendigkeit des Übels, die Nutzlosigkeit der Heilmittel, die Unabwendlichkeit des Verhängnisses, den Willen der Vorsehung und das allgemeine menschliche Elend berufen. Es klingt wie Spott, einen Schmerz durch die Erwägung, daß man zum Leiden geboren sei, besänftigen zu wollen; besser, den Geist seinen düsteren Betrachtungen zu entreißen und den Menschen als ein sinnliches Wesen zu betrachten, anstatt ihn wie eine Verstandesmaschine anzusehen.

Solange die Seele mit dem Körper verbunden ist, wird sie stets von ihm tyrannisiert. Ist der Kreislauf des Blutes zu langsam, sind die Lebensgeister Die Theorie der Lebensgeister wurde von Descartes in seiner Abhandlung »Les passions de l'âme« (art. 7, 8, 10) ausgebildet. Die Nerven sind nach ihm kleine Schläuche und enthalten, ebenso wie das Gehirn, eine Art Luft oder sehr feinen Wind, die sogenannten Lebensgeister, die aber nur als zarte, schnell bewegliche Körper, die Quintessenz des Blutes, zu betrachten seien. nicht rein genug, oder sind sie nicht in ausreichender Menge vorhanden, so verfallen wir in Ermattung und Traurigkeit. Aber wenn wir Arzneien zu uns nehmen, welche diesen Körperzustand zu ändern vermögen, so wird unsere Seele wieder fähig, Eindrücke zu empfangen, welche sie erheitern, und sie empfindet ein geheimes Vergnügen, ihre Maschine sozusagen Bewegung und Leben wiederaufnehmen zu sehen.

Paris, am 25. des Mondes Zilkadeh, 1713.



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