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Achtundzwanzigster Brief.
Rica an ***.

Gestern habe ich etwas höchst Sonderbares gesehen, obwohl es sich in Paris täglich wiederholt.

Die ganze Bevölkerung kommt gegen Ende des Nachmittags zusammen, um eine Art Scene aufzuführen, welche ich Komödie habe nennen hören. Die Hauptbewegung spielt sich auf einer Erhöhung ab, die das Theater heißt. Zu beiden Seiten derselben sieht man in kleinen Zellen, sogenannten Logen, Männer und Frauen, welche stumme Pantomimen miteinander spielen, ganz ähnlich denjenigen, welche bei uns in Persien gebräuchlich sind.

Bald ist es eine betrübte Liebhaberin, welche ihre Sehnsucht auszudrücken sucht; bald sendet eine andere mit brennenden Augen und dem Ausdruck des Verlangens verzehrende Blicke zu ihrem Geliebten, der ihr mit gleichem Augenspiel antwortet. Alle Leidenschaften sind auf diesen Gesichtern ausgesprochen, und zwar mit einer Beredsamkeit, die nur um so verständlicher wirkt, weil sie stumm ist. Dort oben sieht man nur den Oberkörper der Schauspieler, und die Frauen sind gewöhnlich aus Anstandsrücksichten mit einem Muff versehen, in dem sie ihre Arme verstecken. Unten steht eine Anzahl von Leuten, welche sich über die oben auf der Bühne lustig machen, und diese letzteren lachen wieder über die Untenstehenden.

Die größte Mühe aber geben sich einige junge Leute, die für diese Aufgabe einer Altersstufe entnommen sind, welche großen Anstrengungen noch gewachsen ist. Ihnen liegt es ob, überall zugleich zu sein. Sie bedienen sich verborgener Durchgänge, von denen nur sie allein Kenntnis haben; mit überraschender Geschwindigkeit steigen sie von einem Geschoß in das andere; sie sind oben, unten, in allen Logen; sie tauchen plötzlich unter; man verliert sie aus dem Gesicht; mit einemmale sind sie wieder da. Oft verlassen sie sogar das Schauspielhaus und begeben sich in ein anderes, um daselbst weiter zu spielen. Man sieht sogar Leute, die durch eine Art Wunder, welches man ihren Krücken nicht zugetraut hätte, gehen und kommen wie die Anderen. Endlich begiebt man sich in Säle, wo man eine besondere Komödie spielt. Man beginnt mit Verbeugungen und fährt fort mit Umarmungen. Man sagt, daß die flüchtigste Bekanntschaft jedem das Recht verleihe, den andren mit seinen Umschlingungen zu ersticken; es scheint, als sei die Zärtlichkeit ein natürliches Ergebnis dieser Umgebung. In der That sollen die Fürstinnen, welche dort die Herrschaft führen, nicht eben grausam sein; nimmt man zwei oder drei Stunden täglich aus, wo sie, sich ziemlich grimmig geberden, so kann man sagen, daß sie die übrige Zeit recht umgänglich sind, und daß jener Rausch sehr leicht bei ihnen verfliegt.

Alles, was ich Dir hier geschildert habe, spielt sich fast in gleicher Weise an einem andren Orte ab, welchen man die Oper nennt, mit dem einzigen Unterschiede, daß man in der letzteren singt, während man am ersteren spricht. Ein Freund von mir nahm mich neulich mit sich in die Loge, wo die Schauspielerin aus einer der Hauptrollen sich gerade auskleidete. Wir wurden so gut miteinander bekannt, daß ich am nächsten Tage folgenden Brief von ihr empfing:

»Mein Herr!

Ich bin das unglücklichste Mädchen von der Welt. Stets war ich die tugendhafteste von den Darstellerinnen unserer Oper. Vor etwa sieben oder acht Monaten jedoch, als ich in der Loge, wo ich gestern Ihren Besuch empfing, mich gerade als Priesterin der Diana kostümierte, suchte mich ein junger Abbé daselbst auf und raubte mir, ohne Rücksicht auf mein weißes Gewand, meinen Schleier und meine priesterliche Binde, die Unschuld. So nachdrücklich ich ihm auch wiederhole, welch' ein Opfer ich ihm gebracht; habe, er lacht mir ins Gesicht und behauptet, er habe mich sehr unheilig gefunden. Indessen bin ich nun so hochschwanger, daß ich mich nicht mehr auf der Bühne zu zeigen wage; denn wo es sich um den Punkt der Ehre handelt, bin ich erstaunlich zartfühlend; und ich denke immer, daß ein Mädchen von gutem Herkommen leichter ihre Tugend, als ihre Züchtigkeit verlieren kann. Sie können sich wohl vorstellen, daß der junge Abbé bei diesem meinem Zartgefühl niemals zum Ziel gekommen wäre, hätte er mir nicht die Ehe versprochen. Eine so ehrenvolle Absicht verführte mich, auf die gewöhnlichen kleinen Formalitäten zu verzichten und mit dem anzufangen, was das Ende hätte sein sollen. Aber da mich seine Treulosigkeit entehrt hat, so habe ich keine Lust, länger bei der Oper zu bleiben, wo man mir auch, unter uns gesagt, kaum genug zum Leben giebt. Denn jetzt, wo meine Reize mit der fliehenden Jugend verschwinden, scheint meine Gage, die sich immer gleich bleibt, täglich unzureichender. Nun habe ich von jemandem aus Ihrem Gefolge erfahren, daß man in Ihrem Lande von einer guten Tänzerin viel Aufhebens mache, und daß mein Glück alsbald gemacht sein würde, wenn ich in Ispahan wäre. Wenn Sie sich daher geneigt finden ließen, mir Ihre Protektion zu gewähren und mich mit sich in jenes Land zu nehmen, so würden Sie das edle Bewußtsein ernten, einem Mädchen Gutes zu thun, die sich durch ihren tugendhaften Lebenswandel Ihrer Güte würdig zeigen würde. Ich bin« …

Paris, am 2. des Mondes Chalval, 1712.



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