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Dreißigster Brief.
Rica an denselben, zu Smyrna.

Die Neugier der Bewohner von Paris streift an Narrheit. Als ich hier ankam, wurde ich angestaunt, als ob ich vom Himmel gesandt wäre; Greise, Männer, Weiber, Kinder, alle wollten sie mich sehen. So oft ich ausging, stürzte jedermann ans Fenster; in den Tuilerien bildete sich immer gleich ein Kreis um mich; selbst die Frauen umgaben mich wie ein tausendfarbiger Regenbogen. War ich im Theater, so richteten sich augenblicklich hundert Operngucker nach meinem Gesicht: kurz, niemals hat man sich einen Menschen so oft besehen wie mich. Ich konnte mich manchmal eines Lächelns nicht enthalten, wenn ich Leute, die kaum aus ihrem Zimmer gekommen waren, unter sich sagen hörte: »Ja, das muß man zugeben, er sieht wie ein richtiger Perser aus.« Und, merkwürdig, überall fand ich da mein Bild ausgestellt. In allen Läden, auf jedem Kaminsims sah ich mich vervielfältigt – so sehr fürchtete man, mich noch nicht genug gesehen zu haben.

Soviel Ehre wird Einem endlich zur Last. Ich habe mich früher niemals für einen so absonderlichen und seltenen Menschen gehalten, und obwohl ich eine recht gute Meinung von mir habe, würde mir doch niemals der Gedanke gekommen sein, daß ich einmal eine ganze große Stadt, wo niemand mich kennt, in ihrer Ruhe stören sollte. Ich entschloß mich deswegen, die persische Tracht aufzugeben und europäische Kleider anzulegen, um zu sehen, ob meine Gesichtszüge alsdann noch etwas Auffälliges behalten würden. Durch diesen Versuch kam ich zur Erkenntnis meines wirklichen Wertes. Alles ausländischen Schmuckes entkleidet, sah ich mich nach meinem Verdienste gewürdigt. Ich hätte mich wohl über meinen Schneider beklagen dürfen, durch den ich in einem Augenblicke die allgemeine Achtung und Beachtung verloren hatte; denn plötzlich verschwand ich im großen Nichts. Ich verweilte manchmal stundenlang in einer Gesellschaft, ohne daß man mich eines Blickes gewürdigt oder mir Gelegenheit geboten hätte, meinen Mund aufzuthun. Aber wenn zufällig jemand in der Gesellschaft erfuhr, daß ich ein Perser sei, so entstand alsbald ringsumher ein Geflüster: »Ah, in der That! Der Herr ist ein Perser? Das ist ja außerordentlich! Wie kann man denn ein Perser sein?«

Paris, am 6. des Mondes Chalval, 1712.



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