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Sechsundsiebzigster Brief.
Usbek an seinen Freund Ibben in Smyrna.

In Europa werden die Selbstmörder von der grausamsten Rache der Gesetze verfolgt; man läßt sie, so zu sagen, noch einmal sterben, schleift sie mit Schimpf und Schande durch die Straßen, erklärt sie für ehrlos und zieht ihre Güter ein.

Diese Gesetze, Ibben, scheinen mir sehr ungerecht zu sein. Wenn mir die Last der Schmerzen, des Elends und der Verachtung unerträglich wird, warum will man mich hindern, meinen Leiden ein Ende zu machen, und mich grausam eines Heilmittels berauben, das ich in Händen; habe?

Warum soll ich noch einer Gesellschaft dienen, der ich nicht länger angehören mag? warum wider meinen Willen einen Vertrag halten, der ohne meine Einwilligung abgeschlossen wurde? Wechselseitiger Vorteil ist die Grundlage der Gesellschaft; wie kann man mich also hindern, mich von ihr loszusagen, wenn ich den meinigen nicht länger finde? Das Leben wurde mir als eine Gunst verliehen; ich darf es also zurückgeben, wenn es mir zur Last geworden; denn mit der Ursache hört auch die Wirkung auf.

Kann ein Fürst verlangen, daß ich sein Unterthan sei, wenn ich auf die Rechte eines Unterthanen verzichte? Können meine Mitbürger eine so ungerechte Teilung beanspruchen, daß ihnen aller Vorteil und mir die Verzweiflung zufällt? Könnte wohl Gott dem Charakter eines Wohlthäters so untreu werden und mich zu einer Gnade verdammen wollen, die mich elend macht? Bei den Alten wurde der Selbstmord hauptsächlich von den Stoikern, besonders von Seneca (im 57. Briefe) und auch von Marc Aurel (V, 29) verteidigt. Unter den Neueren werden seine Gegner von Hume (Essay on Suicide) und von Schopenhauer (Parerga, Bd. II. Kap. 13) widerlegt. Plato forderte für die Selbstmörder ein schimpfliches Begräbnis. (De legibus, IX.) Young (im fünften Gesange der Nachtgedanken) sagt, der Selbstmord sei »durch göttliche und menschliche Gesetze« verboten, und Ebert bemerkt dazu in seinem Kommentar, Montesquieu halte die letzteren für sehr ungerecht und scheine die ersteren gar nicht zu kennen. Er erzählt, daß man bei einem jungen Engländer, der sich selbst entleibt hatte, obigen Brief auf seinem Tische aufgeschlagen gefunden. Schließlich spricht er die Hoffnung aus, daß Montesquieu »seine vorige Meinung vom Selbstmorde unter den paradoxen Sätzen mit begriffen habe, die er auf seinem Todbette als eine Frucht seiner gar zu großen Neigung, etwas Neues und Fremdes zu behaupten, erkannt und bereuet haben soll.«

Solange ich unter den Gesetzen lebe, muß ich ihnen gehorchen; aber können sie mich noch binden, wenn ich nicht mehr unter ihnen lebe?

Aber man wird den Einwurf erheben: Du störst die Ordnung der Vorsehung. Gott hat Leib und Seele vereinigt, und du scheidest sie; du widerstrebst also seinen Absichten und bist ihm ungehorsam.

Was soll das heißen? Störe ich etwa die Ordnung der Vorsehung, wenn ich die Formen des Stoffes ändere und einen Würfel aus einer Kugel mache, welche die ersten Gesetze der Bewegung, die Gesetze der Erschaffung und Erhaltung, rund gemacht hatten? Nein, gewiß nicht! Ich bediene mich nur des mir verliehenen Rechtes. Und in dem nämlichen Sinne könnte ich nach meiner Laune die Natur umgestalten, ohne daß man sagen dürfte, ich empöre mich gegen die Vorsehung.

Wird die Ordnung und der Lauf des Weltalls darunter leiden, wenn meine Seele sich von meinem Leibe trennt? Wer wollte glauben, die neue Verbindung werde weniger vollkommen und den allgemeinen Gesetzen weniger unterworfen sein? wer, daß die Welt etwas dabei verlieren könnte, und daß die Werke Gottes an Größe oder vielmehr an Unermeßlichkeit einbüßen würden?

Kann man glauben, daß mein Leib, wenn er zur Kornähre, zum Wurm oder zum Rasen geworden, sich in ein Werk der Natur umgewandelt habe, das ihrer minder würdig? und daß meine Seele, wenn sie alles Irdische abgestreift, weniger erhaben sei?

Alle solche Ansichten, mein lieber Ibben, entspringen nur aus unserem Hochmut. Wir haben keinen Begriff von unserer Winzigkeit und wollen trotz ihrer in der Welt mitzählen, eine Rolle spielen und Wichtigkeit erlangen. Wir bilden uns ein, die Vernichtung eines Wesens von unserer Vollkommenheit werde die ganze Natur aus den Fugen rücken, und fassen nicht, daß ein Mensch mehr oder weniger auf der Welt, – was sage ich? alle Menschen mit einander, hundert Millionen Köpfe gleich uns, kaum wie ein feines, zartes Stäubchen sind, das Gott nur bemerkt, weil sein Wissen unermeßlich ist.

Paris, am 15. des Mondes Saphar, 1715.



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