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Sechsundvierzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Ich sehe hier Leute, welche sich unaufhörlich über die Religion herumstreiten; zugleich aber scheinen sie zu wetteifern, wer unter ihnen die Gebote derselben am besten übertreten könne.

Sie sind nicht nur keine besseren Christen, sondern nicht einmal bessere Bürger, und das ist mir höchst anstößig; denn zu welchem Bekenntnis man auch gehören möge, Gehorsam gegen die Gesetze, Liebe zu den Menschen und Ehrfurcht vor den Eltern sind immer die ersten Wirkungen einer religiösen Stimmung. Dieser Brief entwickelt eine Religion der reinen Humanität, die den Verfasser von seiner edelsten Seite zeigt.

Sollte es nicht in der That das nächste Ziel eines religiös gesinnten Menschen sein, der Gottheit wohlzugefallen, von der er seine Religion empfangen hat? Um aber dies zu erreichen, ist Achtung vor den Gesetzen der Gesellschaft und den Pflichten der Menschheit zweifellos das sicherste Mittel. Denn hält man eine Religion für wahr, gleichviel welche, so muß man notwendig auch annehmen, daß Gott die Menschen liebe, da er eine Religion zu ihrer Beglückung eingesetzt hat. Liebt er aber die Menschen, so wird man gewiß sein Wohlgefallen erregen, wenn man sie auch liebt, mit andren Worten, wenn man alle Pflichten der Liebe und der Menschlichkeit gegen sie übt und die Gesetze, unter denen sie leben, nicht übertritt.

Auf diese Art darf man viel sicherer Gottes Wohlgefallen zu finden hoffen, als wenn man diese oder jene Ceremonie beobachtet; denn die Ceremonien haben an sich nicht das geringste Verdienst; gut werden sie nur durch den Sinn, den man ihnen giebt, durch den Glauben, daß sie von Gott geboten sind. Aber dies ist eine vielbestrittene Frage, wobei man leicht in Irrtümer verfallen kann, denn unter den Ceremonien von zweitausend Religionen hat man die einer einzigen auszuwählen.

Es war einmal ein Mann, der betete täglich folgendermaßen zu Gott: »Herr, ich verstehe nichts von allen den Streitfragen, zu deren Gegenstande man Dich unaufhörlich macht. Ich möchte Dir gern nach Deinem Willen dienen; aber jeder, den ich um Rat frage, fordert, daß ich Dir nach seinem Willen diene. Wenn ich zu Dir beten will, so weiß ich nicht, in welcher Sprache ich Dich anreden soll. Ebensowenig weiß ich, welche Stellung ich dabei einzunehmen habe; einer sagt mir, ich müsse stehend zu Dir beten, der andere will, daß ich sitze; der dritte verlangt, daß ich niederkniee. Und noch nicht genug damit, schreiben gewisse Leute mir vor, mich jeden Morgen mit kaltem Wasser abzuwaschen, und andere behaupten, Du werdest mich mit Abscheu betrachten, wenn ich mir nicht ein kleines Stück Fleisch abschneiden lasse. Es traf sich neulich, daß ich in einer Karawanserei ein Kaninchen verzehrte; da setzten drei Männer, die in der Nähe waren, mich in Furcht und Zittern. Alle drei behaupteten, daß ich schwer gegen Dich gesündigt hätte; der erste, Ein Jude. weil das Tier unrein sei, der zweite, Ein Türke. weil es erstickt worden, der dritte Ein Armenier. endlich, weil es kein Fisch. Zufällig kam ein Brahmane vorüber, und ich wollte ihn über die Sache entscheiden lassen. »Sie haben alle Unrecht,« erwiderte er; »denn wahrscheinlich hast du das Tier doch nicht selbst getötet!« – »Doch, doch!« antwortete ich. – »Wehe, dann hast du eine Gräuelthat begangen, die Gott dir niemals verzeihen wird,« versetzte er mit drohender Stimme. »Wie kannst du wissen, ob nicht die Seele deines Vaters Schopenhauer sagt von der Seelenwanderung: »Nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen zugänglichen philosophischen Wahrheit enger anschließen, als diese uralte Lehre des ältesten und edelsten Volkes. Jenes non plus ultra mythischer Darstellung haben daher schon Pythagoras und Platon mit Bewunderung aufgefaßt, von Indien oder Ägypten herübergenommen, verehrt, angewandt; und, wir wissen nicht wie weit, selbst geglaubt.« (Welt als Wille und Vorstellung, I, 419 ff.) in diesem Tiere wohnte?« – Alle diese Dinge, o Herr, haben mein Herz mit quälender Sorge erfüllt; ich kann den Kopf nicht mehr bewegen, ohne vielleicht Deinen Zorn aufzurufen. Und ich möchte doch so gern Dein Wohlgefallen verdienen und das Leben, welches Dein Geschenk ist, diesem Ziele widmen. Ich weiß nicht, ob ich mich irre; aber ich glaube, daß ich es am besten erreiche, wenn ich als guter Bürger in der Gesellschaft lebe, in der ich nach Deiner Fügung geboren wurde, und als guter Vater in der Familie, die Du mir beschieden hast.« Gewiß wird mancher empfinden, wie verwandt dem Standpunkte dieses Briefes die Lösung ist, die Lessing in seinem »Nathan« dem Märchen von den drei Ringen giebt.

Paris, am 8. des Mondes Chahban, 1713.



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