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Hundertunddreizehnter Brief.
Rhedi an Usbek in Paris.

Während meines Aufenthaltes in Europa lese ich die älteren wie die neueren Geschichtschreiber. Ich vergleiche die verschiedenen Zeiten, vergnüge mich daran, sie gleichsam an mir vorüberziehen zu lassen, und besonders verweilt meine Betrachtung bei jenen großen Wandlungen, welche ein Zeitalter von dem andren so verschieden und die Erde sich selbst so unähnlich gemacht haben. Hier beginnt nun die lange Abhandlung über die Abnahme der Bevölkerung, welche elf Briefe (118 bis 123) umfaßt. Keinem andren Gegenstande hat Montesquieu in diesem Buche einen so großen Raum und so viel Aufmerksamkeit gewidmet, und dennoch beruht gerade diese Untersuchung auf einem thatsächlichen Irrtum. (Siehe Jakob Benedey: Macchiavel, Montesquieu, Rousseau. 1850.) Schon David Hume hat dies erkannt (Populousness of Ancient Nations, Essay XXXIII). Mit Hume's vollständiger Beherrschung des alten Quellenmaterials läßt sich Montesquieu's Kenntnis des Alterthums nicht entfernt vergleichen; es ist sogar zweifelhaft, ob der Letztere überhaupt Griechisch verstand, und sein Latein scheint auch nicht weit her gewesen zu sein. Einen wirklichen thatsächlichen Beweis zu geben, daß die Bevölkerung des Alterthums geringer war, ist allerdings unthunlich; denn, sagt Hume, »die uns von alten Schriftstellern überlieferten Thatsachen sind entweder so unsicher oder so unvollständig, daß sie uns kein positives Material bieten.« Dies gilt aber ebenso für Montesquieu's Standpunkt. Andererseits widerlegen den letzteren alle berechtigten Schlußfolgerungen, und Hume kommt zu dem Ergebnis: »Wenn man somit alles zusammenstellt, so scheint es unmöglich, einen stichhaltigen Grund anzugeben, warum die Welt im Altertum hätte bevölkerter sein sollen als in der Neuzeit.«

Vielleicht hast Du Deine Aufmerksamkeit noch nicht auf eine Erscheinung gerichtet, über die ich mich alle Tage verwundere. Wie kommt es, daß die Welt im Vergleich zu früheren Zeiten jetzt so viel weniger bevölkert ist? Wie kam es, daß die Natur jene erstaunliche Fruchtbarkeit der Vorzeit verlieren konnte? Sollte sie schon altersschwach sein und langsam dahinsterben?

Über ein Jahr habe ich in Italien verweilt und daselbst nur die Trümmer jenes alten Italiens gesehen, das einst so berühmt war. Obgleich alles die Städte bewohnt, sind diese doch völlig ausgestorben und verödet; es scheint, als hätten sie nur noch den Zweck, die Orte zu bezeichnen, wo ehedem jene mächtigen Städte geblüht haben, von welchen die Geschichte uns so viel Großes erzählt.

Es wird von Einzelnen behauptet, allein die Stadt Rom habe in ihrer Glanzzeit mehr Einwohner gehabt, als heutzutage das größte Reich in Europa. Manche römischen Bürger hatten zehntausend bis zwanzigtausend Sklaven, ungerechnet diejenigen, welche in ihren Landhäusern beschäftigt waren; und da die Zahl der Bürger vier- bis fünfhunderttausend betrug, so kann man sich die Menge der Bewohner nicht vorstellen, ohne daß sich die Einbildungskraft dagegen sträubte. Eine unter Theodosius verfaßte Beschreibung von Rom giebt die Zahl der Häuser als 48 382. Danach berechnet Gibbon die Zahl der Einwohner. Sein Ergebnis ist 1 200 000, einschließlich der Sklaven. (Decline and Fall of the Roman Empire, XXXI.)

Ehemals gab es auf der Insel Sicilien mächtige Reiche und Völker in großer Zahl; jetzt aber sind sie verschwunden, und an dieser Insel ist nichts mehr bedeutend, als ihre Vulkane.

Griechenland ist jetzt so menschenleer, daß es nicht mehr den hundertsten Teil seiner früheren Einwohnerzahl enthält.

Spanien, das einst von solchen Volksmassen erfüllt war, zeigt uns jetzt nur noch unbewohnte Landstriche, und Frankreich ist nichts, im Vergleich mit jenem alten Gallien, welches Cäsar beschreibt. Nach Cäsars Angaben (Bellum Gallicum, II, 4) berechnet Hume die Einwohner von Gallia Belgica auf 1 500 000. Daraus schließt er: »Da Belgien etwa der vierte Teil von Gallien war, so mag dies sechs Millionen Einwohner gehabt haben, was bei weitem nicht der dritte Teil seiner jetzigen Einwohnerzahl ist.«

Die Länder des Nordens sind gleichfalls sehr verödet, und es fehlt viel daran, daß ihre Bevölkerung sich wie früher teilen und in Kolonien und ganzen Nationen ausschwärmen müßte, um neue Wohnplätze zu suchen. Daß der Norden früher dicht bevölkert gewesen, ist eine abergläubige Vorstellung, die Malthus widerlegt hat (Principle of Population, I, 6).

Polen und die europäische Türkei sind fast ganz entvölkert. Hume glaubt, daß die Türkei jetzt mehr Einwohner enthält, als zur Blütezeit Griechenlands, und hält es für gewiß, daß Polen und Rußland jetzt bevölkerter sind, als das alte Sarmatia und Scythia.

In Amerika findet man jetzt nicht mehr den zweihundertsten Teil der Menschen, welche dort in alter Zeit so große Reiche bildeten

Um Asien ist es nicht besser bestellt. Jenes Kleinasien, das so viele mächtige Monarchien und eine so erstaunliche Zahl von großen Städten enthielt, besitzt deren nur noch zwei oder drei. Was sodann Großasien anbetrifft, so ist der den Türken unterworfene Teil nicht reicher bevölkert; und vergleicht man den, über welchen unsere eigenen Könige gebieten, mit seinem ehemaligen blühenden Zustande, so findet man nur noch einen sehr geringen Teil der zahllosen Bevölkerung, die daselbst unter Xerxes und Darius gelebt hat.

Hinsichtlich der kleinen Nachbarstaaten dieser großen Reiche kann man sagen, daß sie thatsächlich wüst und leer sind, wie die Königreiche Irimetta, Cirkassien und Guriel.

Alle jene Fürsten haben in ihren ausgedehnten Staaten zusammen kaum fünfzigtausend Unterthanen.

Ägypten hat nicht weniger abgenommen, als die übrigen Länder.

Kurz, wenn ich die ganze Erde durchstreife, überall stoße ich auf Verfall; Deutschland hat nach Hume jetzt das Zwanzigfache seiner alten Einwohnerzahl. In Britannien ist das Verhältnis vermutlich noch höher. Die Schweiz hatte ehemals nur 360 000 Einwohner; jetzt enthält allein der Kanton Bern über 500 000. es ist mir, als seien Pest und Hungersnot soeben mit ihren Verwüstungen über sie dahingegangen.

Afrika ist immer so unbekannt gewesen, daß man davon nicht mit solcher Bestimmtheit reden kann, wie von den übrigen Weltteilen; doch man braucht nur die Küsten des mittelländischen Meeres zu betrachten, welche zu allen Zeiten bekannt waren, und man wird sich nicht verhehlen können, daß es einen starken Abfall von der hohen Bedeutung zeigt, die es als römische Provinz besaß. Heutzutage sind die afrikanischen Fürsten so schwach, daß man sie als die kleinsten Mächte der Welt ansehen muß.

Nachdem ich eine so genaue Berechnung angestellt, wie sie unter solchen Umständen möglich ist, bin ich zu dem Schlusse gekommen, daß die Erde jetzt kaum noch ein Fünfzigstel der Bewohnerzahl hat, welche zu Cäsars Zeiten Vermutlich wurde Montesquieu zu diesen Übertreibungen durch die maßlosen Phantasien von Lipsius (De magnitudine Romana) und Bossius (Observationes var.) verführt. auf ihr gelebt haben. Das Erstaunlichste ist, daß sie sich noch täglich mehr entvölkert; wenn das so fortgeht, wird; sie in tausend Jahren nur noch eine Wüste sein.

Von allen Katastrophen, mein lieber Usbek, welche jemals über die Welt hereingebrochen sind, ist dies die schrecklichste; aber man ist ihrer noch kaum gewahr geworden; denn sie hat nur langsam und im Verlaufe von vielen hundert Jahren ihre Fortschritte gemacht. Dies deutet auf einen inneren Fehler, ein geheimes und verborgenes Gift, eine auszehrende Krankheit der menschlichen Natur. Vergl. auch »Geist der Gesetze«, XXIII, 17, 18, 19.

Venedig, am 10. des Mondes Rhegeb, 1718.



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