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Zweiundsechzigster Brief.
Zelis an Usbek in Paris.

Da Deine Tochter ihr siebentes Jahr zurückgelegt hat, so hielt ich es für besser, sie schon jetzt in die inneren Gemächer des Serails aufzunehmen, als erst das zehnte Jahr abzuwarten, um sie den schwarzen Eunuchen anzuvertrauen. Man kann ein junges Mädchen nicht früh genug von den Freiheiten seiner Kindheit entwöhnen und ihm in den geweihten Mauern, wo die Schamhaftigkeit wohnt, eine heilige Erziehung geben. Vermutlich ist dies eine Anspielung einerseits auf die klösterliche Mädchenerziehung in Frankreich überhaupt, besonders aber auf die großartige weibliche Erziehungsanstalt Saint-Cyr, die von Frau von Maintenon, der Maitresse Ludwigs XIV., gegründet worden war. Diese Dame hatte sogar mit Fénelons Hilfe ein Buch geschrieben (L'Esprit de l'Institut des Filles de Saint-Louis), von welchem jede Lehrerin der Anstalt bei ihrem Eintritt in Saint-Cyr ein Exemplar empfing.

Ich kann durchaus nicht mit jenen Müttern übereinstimmen, die ihre Töchter erst dann einschließen, wenn sie im Begriffe stehen, einen Mann für sie zu wählen; denn auf solche Art verdammen sie dieselben vielmehr zum Serail, als sie ihm zu weihen, und zwingen sie gewaltsam zu einer Lebensweise, zu der sie ihnen nach und nach hätten Liebe einflößen sollen. Warum alles von dem strengen Vernunftgebot und nichts von der süßen Gewöhnung erwarten?

Vergebens spricht man uns von der Abhängigkeit, welche unser natürliches Los ist. Es ist nicht genug, uns dieselbe fühlbar zu machen; man muß uns auch darauf einüben, damit sie uns in jener kritischen Zeit zu Hilfe komme, wo die Leidenschaften zu erwachen und uns zu eigenwilligem Handeln zu reizen beginnen.

Wären wir nur durch die Pflicht an euch gebunden, so könnten wir ihrer manchmal vergessen; wären wir es nur durch das Band der Neigung, so könnte eine stärkere Neigung es zerreißen. Aber wenn die Gesetze uns zum Eigentum eines Mannes machen, so entziehen sie uns allen anderen und entfernen uns so weit von ihnen, als schieden uns hunderttausend Meilen.

Die Natur, welche soviel für die Männer gethan, hat sich nicht darauf beschränkt, sie selbst mit dem Liebestriebe auszustatten, sondern ihr Wille hat ihn auch uns verliehen, auf daß wir ihnen als lebendige Werkzeuge ihres Glückes dienten. Damit sie ruhig leben möchten, hat sie das Feuer der Leidenschaften in uns entzündet. Verlieren sie ihre Unempfindlichkeit, so ist es unsere Bestimmung, dieselbe wiederherzustellen, ohne daß wir selbst jemals des glücklichen Zustandes, in den wir sie versetzen, genießen könnten.

Bilde Dir indessen nicht ein, Usbek, Deine Lage sei glücklicher als die meinige; denn ich habe hier tausend Freuden gekostet, von denen Du nichts weißt, und meine Phantasie war fortgesetzt thätig, mir ihren Wert voll zum Bewußtsein zu bringen. Ich habe gelebt, und Du hast nur geschmachtet.

Selbst in dem Kerker, in dem Du mich gefangen hältst, bin ich freier als Du. Und wenn Du auch Deine Anstalten zu meiner Bewachung noch verdoppeltest, würde ich doch an Deiner Unruhe meine Freude haben. Dein Mißtrauen, Deine Eifersucht und Deine Sorgen sind lauter Beweise Deiner Abhängigkeit.

Fahre nur so fort, lieber Usbek. Laß mich Tag und Nacht bewachen, und mehr noch, begnüge Dich nicht mit den hergebrachten Vorsichtsmaßregeln. Vermehre mein Glück, indem Du Dir das Deinige sicherst, und sei gewiß, daß ich nichts fürchte als Deine Gleichgültigkeit.

Serail zu Ispahan, am 2. des ersten Mondes Rebiab, 1714.



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