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Vierzigster Brief.
Usbek an Ibben in Smyrna.

Wenn ein Großer gestorben ist, so kommt man in einer Moschee zusammen, wo ihm eine Leichenpredigt, in Wahrheit eine Lobrede auf ihn, gehalten wird. Es würde eine schwierige Aufgabe sein, auf Grund der letzteren zu einer richtigen Schätzung der Verdienste des Verstorbenen zu gelangen.

Käme es auf mich an, so sollte das Leichengepränge abgeschafft werden. Man muß die Menschen bei ihrer Geburt beweinen, nicht bei ihrem Tode. Dies soll in der That der Brauch eines alten Volkes gewesen sein. Daß auch Sokrates den Tod als die Genesung von einer Krankheit betrachtete, bewies er durch das Opfer, das er vor seinem Ende dem Äskulap bestimmte. Dagegen verteidigte Solon unsere Trauer um die Geschiedenen. Als er den Tod seines Sohnes beklagte, wurde ihm gesagt, seine Thränen seien unnütz und ohnmächtig. »Eben weil sie unnütz und ohnmächtig sind, weine ich,« gab er zur Antwort. (Diogenes Laertius, I, 63.) Was bewirken alle die Ceremonien und Trauerzurüstungen, mit deren Anblick man die letzten Augenblicke eines Sterbenden verdüstert, ja selbst die Thränen seiner Familie und der Schmerz seiner Freunde, als ihm eine übertriebene Empfindung des Verlustes, der ihm bevorsteht, beizubringen?

Wie sind so verblendet, daß wie nicht wissen, wann es Zeit zur Betrübnis oder zur Freude ist; fast immer ergeben wir uns der Traurigkeit oder dem Frohsinn, wenn wir das Gegenteil empfinden sollten.

Wenn ich den Mogul sehe, der sich alle Jahre in seiner Albernheit auf eine Wage setzt und sich wie einen Mastochsen wiegen läßt, und wenn ich dann sehe, wie das Volk darüber vergnügt ist, daß dieser Fürst so viel schwerfälliger, d. h. so viel unfähiger geworden, seine Herrscherpflichten zu erfüllen, dann, lieber Ibben, empfinde ich Mitleid mit der menschlichen Narrheit.

Paris, am 20. des Mondes Rhegeb, 1713


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