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Fünfundvierzigster Brief.
Rica an Usbek in ***

Gestern früh, als ich noch im Bette lag, vernahm ich ungestümes Klopfen an meiner Thür, und plötzlich wurde dieselbe von einem Manne, mit dem ich flüchtig bekannt; geworden war, und der mir ganz außer sich zu sein schien, geöffnet oder vielmehr erbrochen.

Sein Anzug war mehr als dürftig; seine Perücke hing ihm ganz schief und war nicht einmal gekämmt; er hatte keine Zeit gehabt, sein schwarzes Wamms ausbessern zu lassen, und für diesen Tag hatte er auf die weisen Vorsichtsmaßregeln verzichtet, durch welche er sonst den abgerissenen Zustand seiner Kleider zu verbergen pflegte.

»Stehen Sie auf!« rief er mir zu. »Ich brauche Sie heut den ganzen Tag. Ich habe tausend Einkäufe zu machen, und es würde mir sehr lieb sein, wenn Sie mir dabei helfen wollten. Zuerst müssen wir zu einem Notar in der Straße Saint-Honoré; er ist mit dem Verkauf eines Landgutes für fünfhunderttausend Livres beauftragt, und ich will mir das Vorkaufsrecht bei ihm bedingen. Auf dem Wege hierher habe ich mich schon einen Augenblick im Faubourg Saint-Germain aufgehalten und daselbst ein Haus für zweitausend Thaler gemietet; noch heute hoffe ich den Kontrakt abzuschließen«.

Ich war noch kaum mit dem Ankleiden fertig, so mußte ich schon in größter Hast mit dem Biedermanne die Treppe hinabsteigen. »Beginnen wir mit dem Ankauf einer Kutsche,« sagte er, »damit sogleich für die Equipage gesorgt sei.« Und wirklich kauften wir in weniger als einer Stunde nicht allein einen Wagen, sondern auch noch für hunderttausend Francs andere Gegenstände. Alles dies ging so glatt ab, weil der gute Mann weder handelte, noch zahlte, auch nahm er seine Einkäufe nicht mit sich. Dies alles gab mir zu denken, und bei näherer Betrachtung wußte ich wirklich nicht, wie ich mir seine seltsame Mischung von Reichtum und Armut erklären sollte. Endlich aber brach ich das Schweigen nahm ihn bei Seite und fragte: »Wer wird denn alles dies bezahlen, mein Herr?« – »Nun, ich!« erwiderte er. »Kommen Sie mit mir auf mein Zimmer; da will ich Ihnen unermeßliche Schätze zeigen, und Reichtümer, um die mich die größten Monarchen beneiden werden. Sie indessen, Sie sollen zum Neide keinen Grund haben; denn Sie werden alles mit mir teilen.« Ich begleite ihn also. Wir klettern zu seinem fünften Stockwerk hinaus, und von dort erklimmen wir auf einer Leiter ein sechstes. Es ist ein Gemach, wo alle vier Winde freies Spiel haben, und alles, was sich darin befindet, sind zwei oder drei Dutzend irdene Gefäße, mit verschiedenen Flüssigkeiten gefüllt. »Ich bin heut Morgen in aller Frühe aufgestanden,« sagte er, »und was ich seit fünfundzwanzig Jahren gethan habe, das war auch diesmal mein erstes Geschäft: ich sah nach meinem Werke. Da habe ich erkannt, daß endlich der große Tag gekommen, der mich zum reichsten Manne der Erde machen sollte. Sehen Sie diesen hochroten Saft? Er hat jetzt alle Eigenschaften, welche die Philosophen zur Umwandlung der Metalle für unerläßlich erklären. Diese Stücke hier habe ich herausgenommen; der Farbe nach sind sie jetzt echtes Gold, wenn auch das Gewicht noch nicht ganz stimmt. Dies von Nicholas Flamel entdeckte Geheimnis, nach welchem Raimundus Lullus Nicolas Flamel und Raimundus Lullus waren berühmte Adepten des vierzehnten Jahrhunderts. Der erstere ist nach der Überzeugung seiner Anhänger niemals gestorben, und überhaupt glaubten dieselben, daß man vermöge geheimer Kräfte über Tod und Krankheit Macht gewinnen könne. Diese Ideen stehen mit orientalischen, besonders indischen und persischen Einwirkungen in Zusammenhang und haben neuerdings wieder viele Anhänger gefunden, deren Mittelpunkt die Theosophical Society in London ist. (Vergl. Jennings, The Rosicrucians; Sinnet, The Occult World; Mme. Blavatsky, Isis Unveiled). Über die Kabbalisten vergl. Brief 58, Anm. 92 und Brief 143, Anm. 294. –Übrigens hat schon Leibniz gesagt, daß es ein volkswirtschaftliches Unglück sein würde, wenn die Alchymisten das Geheimnis des Goldmachens entdeckten; denn es würde das Geld entwerten, und zum Transport desselben würden anstatt der Taschen Karren notwendig werden. und Millionen andere vergeblich geforscht haben, hat sich auf mich vererbt, und heut bin ich ein glücklicher Adept. Der Himmel helfe mir, daß ich diese großen Schätze, die er mir bescheert hat, nur zu seinem Ruhme verwende!«

Ich eilte hinaus, stieg oder stürzte vielmehr höchst aufgebracht die Treppe hinunter und ließ den reichen Mann in seinem Narrenhause. Lebewohl, mein lieber Usbek. Morgen komme ich zu Dir, und wenn es Dir recht ist, kehren wir miteinander nach Paris zurück.

Paris, am Letzten des Mondes Rhegeb, 1713.



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