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Einundsechzigster Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Neulich besichtigte ich das Innere einer berühmten Kirche, welche den Namen Notre-Dame führt. Während ich das gewaltige Bauwerk bewunderte, fand ich Gelegenheit, mich mit einem Geistlichen zu unterhalten, den, wie mich selbst, die Schaulust dorthin gelockt hatte. Wir kamen auf das ruhige Leben in seinem Stande zu sprechen. »Die meisten Leute,« sagte er, »sehen mit Neid auf das Glück unseres Berufes, und sie haben Recht; doch hat er auch seine Schattenseite. Wir sind nicht so ganz von der Welt abgesondert, daß wir nicht bei tausend Gelegenheiten in ihr Treiben zurückgerufen würden; da haben wir dann eine gar schwierige Rolle zu spielen.

Die Weltmenschen sind eine merkwürdige Art: weder Lob, noch Tadel können sie von uns vertragen. Wollen wir sie zurechtweisen, so finden sie uns lächerlich; spenden wir ihnen Beifall, so meinen sie, wir verleugnen unsren Charakter; Nichts ist so demütigend wie der Gedanke, daß man selbst den Gottlosen Ärgernis gegeben hat. So sehen wir uns zu einer zweideutigen Haltung genötigt; anstatt durch ein entschiedenes Auftreten, müssen wir den Spottlustigen dadurch zu imponieren suchen, daß wir sie in Ungewißheit darüber lassen, was wir von ihren Reden halten. Dazu gehört viel Klugheit; denn diese Neutralität ist schwer zu behaupten. Die Weltmenschen, welche alles wagen, alle ihre Einfälle unbekümmert aussprechen und, je nach dem Erfolge, sie festhalten oder wieder fahren lassen, haben viel leichteres Spiel.

Und das ist noch nicht alles. Diesen Zustand des Glückes und der Ruhe, von dem man soviel Aufhebens macht, stört die Berührung mit der Welt. Sobald wir dort erscheinen, zieht man uns in Streitfragen hinein. Bald müssen wir einem Menschen, der nicht an Gott glaubt, die Nützlichkeit des Gebets beweisen, bald einem andren, der sein Leben lang die Unsterblichkeit der Seele geleugnet hat, die Notwendigkeit des Fastens. Es ist eine mühsame Aufgabe, und die, Lacher sind nicht auf unserer Seite. Zu alledem peinigt uns noch unaufhörlich eine gewisse Sucht, andere zu unseren Ansichten zu bekehren; sie gehört sozusagen zu unserem Beruf. Das ist gerade so lächerlich, als wenn die Europäer zum Besten der Menschheit sich damit abmühen wollten, den Afrikanern die Gesichter weißzuwaschen. Wir stören die Ruhe des Staates und unsere eigene, um Lehrsätzen, die nicht zu den religiösen Grundwahrheiten gehören, allgemeine Anerkennung zu verschaffen; kurz, wir gleichen jenem chinesischen Eroberer, der eine allgemeine Empörung seiner Unterthanen heraufbeschwor, weil er sie zwingen wollte, sich das Haar oder die Nägel; zu beschneiden. »Amawang, der von 1644-1651 für seinen noch minderjährigen Neffen Schun-tschi, den ersten Mandschu-Kaiser von China, die Regentschaft führte, erregte dadurch, daß er den Chinesen bei Todesstrafe befahl, sich die langen Haare abzuscheeren und nach tatarischer Sitte am kahlen Haupte einen langen Zopf zu tragen, große Unzufriedenheit, die zu mehrfachen Empörungen führte.« Strodtmann. – Auch in Frankreich wüteten unter Ludwig VII. blutige Kämpfe, weil die Franzosen gezwungen werden sollten, sich Haar und Bart zu beschneiden.

Oft ist selbst der Eifer gefährlich, mit welchem wir die, über deren Seelenheil wir wachen sollen, zur Erfüllung der Pflichten unserer heiligen Religion anzuhalten suchen, und man hat die größte Vorsicht dabei zu beobachten. Ein Kaiser Namens Theodosius ließ alle Einwohner seiner Stadt, Thessalonichi. selbst die Weiber und Säuglinge, niedermetzeln. Als er hierauf in eine Kirche treten wollte, ließ ein Bischof Namens Ambrosius die Thür vor ihm, als vor einem Mörder und Ruchlosen, verschließen; und in diesem Stücke handelte er wie ein Held. Nachdem aber der Kaiser Buße gethan, wie es seine Unthat erheischte, wurde ihm die Kirche wieder geöffnet, und er wollte einen Platz zwischen den Priestern einnehmen; doch der Bischof verbot es ihm, und er handelte damit wie ein närrischer Fanatiker. So gewiß ist es, daß man seinen Eifer im Zaum halten muß. Was konnte der Religion oder dem Staate daran gelegen sein, ob jener Fürst bei den Priestern saß oder nicht?«

Paris, am 1. des ersten Mondes Rebiab, 1714.



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