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Fünfunddreißigster Brief.
Usbek an seinen Vetter Gemschid,
Derwisch des hochberühmten Klosters zu Tauris.

Wie denkst Du über die Christen, erhabener Derwisch? Glaubst Du, daß es ihnen am Tage des Gerichts wie den ungläubigen Türken ergehen wird, die den Juden als Esel dienen und von diesen in vollem Trabe in die Hölle geritten werden sollen? Ich weiß wohl, daß sie nicht zu den Propheten eingehen werden, und daß der große Ali nicht für sie gekommen ist. Aber glaubst Du, daß sie deswegen, weil sie nicht so glücklich waren, Moscheen in ihrem Lande zu finden, zu ewigen Qualen verdammt sind, und daß Gott sie dafür strafen wird, daß sie einer Religion nicht dienten, die er ihnen nicht offenbart hat? Ich kann Dir sagen, daß ich diese Christen oftmals ins Verhör genommen; ich habe sie ausgeforscht, um zu sehen, ob sie denn gar keine Ahnung besäßen von dem großen Ali, dem schönsten aller Menschen; Dies wird von André Lefèvre als eine Anspielung auf den Stifter der christlichen Religion betrachtet. Vermutlich denkt er an das bekannte apokryphe Bildnis Jesu und den gleichfalls apokryphen Brief des P. Lentulus an den römischen Senat. aber ich fand, daß ihnen niemals etwas von ihm zu Ohren gekommen ist.

Sie gleichen nicht jenen Ungläubigen, welche unsere heiligen Propheten über die Klinge springen ließen, weil sie sich weigerten, an die Wunder des Himmels zu glauben; sie sind vielmehr wie die Unglücklichen, welche in der Finsternis des Götzendienstes schmachteten, ehe die göttliche Klarheit das Angesicht unseres großen Propheten erleuchtete.

Wenn man übrigens ihre Religion näher betrachtet, so wird man darin etwas wie den Samen unserer Glaubenssätze erkennen. Oftmals habe ich die Geheimnisse der Vorsehung bewundert; denn es scheint, als habe diese sie dadurch auf die allgemeine Bekehrung vorbereiten wollen.

Ich hörte von einem Buche ihrer Gelehrten reden, welches den Titel führt: »Der Triumph der Polygamie;« Theophili Alethei polygamia triumphatrix. darin wird nachgewiesen, daß die Vielweiberei ein christliches Gebot ist. Ihre Taufe ist ein Seitenstück zu unseren vorgeschriebenen Waschungen, und die Christen irren nur darin, daß sie dieser ersten Waschung eine übertriebene Wirkung zuschreiben, indem sie glauben, daß durch sie alle weiteren überflüssig werden. Ihre Priester und Mönche beten wie wir täglich siebenmal. Sie hoffen auf ein Paradies, wo sie durch die Auferstehung des Fleisches zum Genusse von tausendfachen Entzückungen gelangen werden. Gleich uns haben sie gesetzliche Fasttage und Kasteiungen, durch welche sie die göttliche Barmherzigkeit zu rühren hoffen. Sie erzeigen den guten Engeln religiöse Verehrung und scheuen sich vor den bösen Geistern. Mit gläubiger Ehrfurcht betrachten sie die Wunder, welche Gott durch die Vermittelung seiner Diener wirkt. Gleich uns erkennen sie die Unzulänglichkeit ihrer Verdienste und ihr Bedürfnis eines Mittlers vor Gott. Überall sehe ich Muhamedanismus, obwohl ich keinen Muhamed bei ihnen finde. Was man auch thun mag, die Wahrheit bricht sich Bahn und durchdringt die Finsternis weit umher. Der Tag naht, wo der Ewige nur noch wahre Gläubige auf der Erde erblicken wird. Die Zeit, welche alles vernichtet, wird auch die Irrtümer zerstören. Alle Menschen werden mit Staunen sich um die nämliche Fahne geschaart finden. Dann wird alles vergehen, selbst das Gesetz, und die Bücher der göttlichen Gebote werden von der Erde in die himmlischen Archive emporgetragen werden.

Paris, am 20. des Mondes Zilhageh, 1713.



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