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Achtundsechzigster Brief.
Rica an Usbek in ***

Neulich speiste ich bei einem Rechtsgelehrten, der mich schon mehrmals eingeladen hatte. Nachdem wir uns von mancherlei unterhalten hatten, sagte ich zu ihm: »Mein Herr, Ihr Beruf muß doch sehr schwierig sein!« – »Nicht so schwierig, wie Sie glauben,« antwortete er; »so wie wir ihn ausüben, dient er uns nur zum Zeitvertreib.« – »Aber; wie ist das möglich? Füllen Ihnen nicht immer die Sorgen fremder Leute den Kopf? Sind Sie nicht stets mit Angelegenheiten beschäftigt, die gar kein Interesse haben?« – »Das ist ganz richtig, interessant sind uns diese Sachen nicht; denn wir interessieren uns so gut wie gar nicht dafür. Aber gerade deswegen ist unser Beruf nicht so anstrengend, wie Sie meinen.« – Da er sich so ungezwungen äußerte, so fuhr ich in meinen Fragen fort. »Mein Herr,« sagte ich, »ich habe Ihr Studierzimmer noch nicht gesehen.« – »Das glaub' ich; denn ich besitze keins,« erwiderte er. »Als ich mein Amt antrat, brauchte ich Geld; denn es kostete Bezieht sich auf die Käuflichkeit der Ämter unter Ludwig XIV. Wer Richter wurde, hatte eine Geldsumme gerichtlich zu hinterlegen, das hieß seine Consignation. etwas. Ich verkaufte also meine Bibliothek und der Buchhändler, der sie mir abnahm, ließ mir von der erstaunlichen Zahl von Bänden nur einen einzigen: das Buch meiner Vernunft. Aber ich bedaure den Verlust keineswegs; wir Richter blähen uns nicht mit eitler Gelehrsamkeit. Was haben wir mit all' den Gesetzbüchern zu schaffen? Fast alle Fälle sind hypothetisch und entziehen sich der allgemeinen Regel.« – »Aber wenn sie sich der Regel entziehen, mein Herr,« warf ich ein, »könnte das nicht die Wirkung Ihrer eigenen Methode sein? Denn warum gäbe es wohl bei allen Völkern des Erdballs Gesetze, wenn sie keine Anwendung fänden? Und wie kann man sie anwenden, wenn man sie nicht kennt?« – »Wüßten Sie im Justizpalast Bescheid,« versetzte der Beamte, »so würden Sie anders sprechen. Wir haben lebendige Bücher, nämlich die Advokaten; diese arbeiten für uns und nehmen es auf sich, uns zu belehren.« – »Aber nehmen sie es nicht manchmal auch auf sich, Sie zu täuschen?« warf ich ein. »Da wäre es doch nicht übel, wenn Sie auf der Hut wären, um nicht in ihre Falle zu gehen. Sind jene im Besitze von Waffen, mit denen sie Ihre Gerechtigkeit. angreifen, so wäre es doch gut, wenn auch Sie solche zur Verteidigung derselben besäßen und sich nicht so ungerüstet mit Leuten in einen Kampf einließen, die bis an die Zähne gepanzert sind.« La Bruyère (Die Charaktere, Kap. 14, 48 nach der Nummerierung von Dr. Richard Hamel in dessen vortrefflicher Übersetzung, Stuttgart) macht auf die Unzuträglichkeit aufmerksam, die darin lag, daß für Richter keine bestimmte Zeit zum vorbereitenden Studium festgesetzt war, und daß ihr Lehrlingsstück darin bestand, in Machtvollkommenheit über Leben und Vermögen der Menschen zu entscheiden. – Über die Gesetze vergl. Brief 101, zweite Hälfte.

Paris, am 13. des Mondes Chahban, 1714.



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