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Hundertundsiebenter Brief.
Usbek an Rhedi in Venedig.

Entweder denkst Du nicht, wie Du sprichst, oder Dein Thun ist vernünftiger als Dein Denken. Du hast Dein Vaterland verlassen, um Dich zu bilden, und Du verachtest alle Bildung; Du kommst zu Deiner Belehrung in ein Land, wo die schönen Künste gepflegt werden, und Du betrachtest sie als verderblich. Aber glaube mir nur, Rhedi, ich habe eine bessere Meinung von Dir, als Du selbst.

Hast Du Dir wohl schon von dem barbarischen und elenden Zustande, in den uns der Verlust der Künste hineinreißen würde, eine Vorstellung gemacht? Man bedarf dazu gar keiner Phantasie; denn wir haben Beispiele vor Augen. Es giebt noch Völker auf der Erde, bei denen ein leidlich abgerichteter Affe mit Ehren leben könnte; er würde dort mit den übrigen Bewohnern ungefähr auf gleicher Stufe stehen. Man würde weder seinen Geist absonderlich, noch sein Betragen närrisch finden; er würde so viel Achtung genießen wie alle andren, ja sich sogar noch durch besondere Artigkeit vor ihnen auszeichnen.

Du sagst, fast alle Staatengründer hätten von den Künsten nichts gewußt. Ich gebe zu, daß barbarische Völker sich wie reißende Ströme über die Erde ergießen und mit ihren wilden Heeren die bestgeordneten Reiche überschwemmen konnten. Aber verlaß Dich darauf: entweder haben sie alsdann die Künste selbst erlernt, oder sie haben die besiegten Völker in deren Ausübung nicht gehindert. Ohne dies wäre ihre Macht dahingeschwunden wie das Toben des Donners und der Stürme.

Du fürchtest, man werde ein noch furchtbareres Zerstörungsmittel erfinden, als das jetzt gebräuchliche. Nein, durchaus nicht! Sollte wirklich eine so verhängnisvolle Erfindung das Licht sehen, so würde sie bald durch das Völkerrecht verboten und durch den einstimmigen Beschluß der Nationen wieder begraben werden. Es liegt nicht im Interesse der Fürsten, ihre Eroberungen durch solche Mittel zu erzielen; sie brauchen Unterthanen, nicht wüste Länder.

Du bedauerst die Erfindung des Pulvers und der Bomben und beklagst, daß es keine uneinnehmbare Festung mehr giebt. Das heißt mit andren Worten, Du bist unzufrieden darüber, daß die Kriege heutzutage schneller zum Abschluß kommen, als in früheren Zeiten.

Es muß Dir bei Deinem Geschichtsstudium aufgefallen sein, daß seit der Erfindung des Pulvers die Schlachten weit weniger blutig sind, als sie es ehemals waren, weil es fast nie mehr zum Handgemenge kommt.

Hätte eine Kunst aber auch in einem besonderen Falle einmal schädlich gewirkt, dürfte man sie deswegen ganz und gar verwerfen? Hältst Du, Rhedi, darum die Religion, welche unser heiliger Prophet vom Himmel gebracht hat, für verderblich, weil sie eines Tages dazu dienen wird, die treulosen Christen zu Schanden zu machen? Vergl. das Ende des 35. Briefes.

Du glaubst, daß die Künste Verweichlichung der Völker zur Folge haben und dadurch den Sturz der Reiche verursachen. Du nennst den Fall der alten Perser eine Wirkung ihrer Verweichlichung; aber dies Beispiel ist keineswegs entscheidend; denn die Griechen, welche sie unterwarfen, pflegten die Künste mit unendlich größerer Hingebung als jene.

Wenn man behauptet, die Menschen werden durch die Künste weibisch gemacht, so denkt man dabei keineswegs an die Leute, welche dieselben betreiben; denn diese huldigen niemals dem Müßiggang, welcher mehr als alle andere Laster den Mut untergräbt.

Es handelt sich also nur um diejenigen, welche die Künste genießen. Aber da in einem wohlgeordneten Land die, welche sich der Vorteile einer Kunst bedienen, notwendig selbst eine andere betreiben müssen, wenn sie nicht in schimpfliche Armut verfallen wollen, so ergiebt sich, daß Müßiggang und Verweichlichung mit den Künsten unverträglich sind. Obwohl dieser Brief mit vollem Recht die Segnungen der Civilisation verteidigt, übertreibt er doch ebenso das eine Extrem, wie der vorhergehende das andere. Es ist nicht wahr, daß der Kapitalist zur Ausübung von Künsten genötigt sei, um nicht in Armut zu verfallen; ist also Montesquieu's Behauptung richtig, so folgt daraus, daß eine vom Kapital beherrschte Gesellschaft keine gesittete ist. Sodann hat Rousseau mit Recht betont, daß die Einträglichkeit der Künste gewöhnlich in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Nutzen steht. (Discours sur l'origine de l'inégalité, note 9e) Montesquieu's Standpunkt war schon im Jahre 1714 von Mandeville in seiner berühmten Bienenfabel (vermehrt London, 1723) nach allen Seiten entwickelt. Vergl. auch »Geist der Gesetze,« VII, Kap. 1 ff.

Paris ist vielleicht die sinnlichste Stadt der Welt und die Erfindungsstätte der raffiniertesten Genüsse; aber vielleicht ist daselbst auch die Mühseligkeit des Daseins bis aufs Äußerste gesteigert. Damit ein einziger im Schoß des Vergnügens leben könne, müssen hundert andere sich ruhelos plagen. Setzt sichs eine Frau in den Kopf, daß sie in einer Gesellschaft in einem gewissen Putz erscheinen möchte, so dürfen von dem Augenblick an fünfzig Handwerker nicht mehr schlafen oder sich zum Essen und Trinken die Zeit nehmen. Sie befiehlt, und sie findet unverzüglicheren Gehorsam als unser Monarch, weil Eigennutz der mächtigste Monarch auf Erden ist.

Diese Arbeitswut, dies leidenschaftliche Bestreben, reich zu werden, geht durch alle Stände, von den Handwerkern bis zu den Großen. Niemand möchte gern ärmer sein, als der Emporkömmling, auf den er noch vor kurzem hinabsehen konnte. Man findet Leute in Paris, die wohlhabend genug sind, um bis zum jüngsten Tage sorgenlos zu leben; aber trotz alledem arbeiten sie von früh bis spät und setzen sich der Gefahr aus, ihr Leben zu verkürzen, um, wie sie sagen, ihre Lebensnotdurft zu erwerben.

Der nämliche Geist erfüllt die ganze Nation; man sieht nichts als Arbeit und Gewerbfleiß: wo ist nun das verweichlichte Volk, von dem Du redest?

Sehen wir einmal voraus, Rhedi, man duldete in einem Reiche nur die zum Ackerbau durchaus unentbehrlichen Künste, die übrigens sehr zahlreich sind, und alle diejenigen, welche nur zum Vergnügen oder zur Unterhaltung dienen, würden daraus verbannt: so behaupte ich: dies wäre der elendeste Staat auf der Welt.

Hätten die Einwohner den Mut, sich die Entbehrung n so vielerlei Bedürfnissen aufzuerlegen, so würde das Volk dem Untergange von Tag zu Tage näher kommen, und der Staat würde so geschwächt werden, daß ihn die allerkleinste Macht zu erobern vermöchte.

Ich könnte mich hier auf viele Einzelnheiten einlassen und Dir unter andrem den Beweis liefern, daß die Einkünfte der Privatleute und folglich auch die des Fürsten, fast gänzlich in Stockung geraten würden. Beinahe sämtliche Beziehungen zu gegenseitiger Hilfe unter den Bürgern würden aufhören; jener Umlauf des Geldes wie die stufenweise Steigerung des Einkommens, welche die Folge der gegenseitigen Abhängigkeit der Künste ist, wäre durchaus unterbrochen; niemand würde ein andres Einkommen haben als den Ertrag seines Ackers, und dieser würde nur gerade ausreichen, ihn vor dem Hungertode zu bewahren. Aber da dies nicht den hundertsten Teil der Einkünfte des Reiches beträgt, so müßte sich die Zahl der Einwohner verhältnismäßig vermindern und nur der hundertste Teil davon übrig bleiben.

Überzeuge Dich nur, welchen hohen Ertrag die Gewerbsthätigkeit abwirft. Aus einem Grundstück erzielt der Besitzer jährlich nur den zwanzigsten Teil des Wertes; aber mit Farbe im Wert von einer einzigen Pistole bringt ein Maler ein Bild zu Stande, wofür man ihm fünfzig Pistolen bezahlt. Diese Vermischung von Kunst und Handwerk, von Idealwert und Gebrauchswert scheint unstatthaft. Farbe thuts freilich nicht, sondern der Geist, so mit und bei der Farbe ist. Daß ein Grundstück jährlich den zwanzigsten Teil des Wertes abwerfe, ist übrigens ein Satz, dessen Wahrheit von vielerlei Verhältnissen abhängt. In Deutschland bringt die Landwirtschaft im allgemeinen nur drei Prozent; aber die Gärtnerei kann aus einem Grundstück weit höheren Ertrag erzielen, besonders wenn ein guter Markt in der Nähe ist. Amerikanische Obstzüchter erzielen durch das kleine Frühobst, wie Erdbeeren, fabelhaften Gewinn, wenn ihnen die großen Städte zugänglich sind. Andrerseits läßt sich dasselbe von »Handwerkern jeglicher Art« keineswegs behaupten. Aber hier fehlt der Raum, diese Frage selbst nur andeutungsweise zu behandeln; was hier so leicht hingeworfen ist, es ist das schwierigste Problem der modernen Gesellschaft: Die Lohnfrage. Dasselbe kann man von den Goldschmieden, von den Woll- und Seiden-Arbeitern und von Handwerkern jeglicher Art behaupten.

Aus alledem muß man den Schluß ziehen, Rhedi, daß es eine Bedingung der Macht eines Fürsten ist, Unterthanen zu haben, die das Leben genießen können; er muß deswegen seine Aufmerksamkeit ebenso ernstlich darauf gerichtet halten, sie mit allerlei überflüssigen Dingen zu versorgen, wie mit den notwendigsten Lebensbedürfnissen.

Paris, am 14. des Mondes Chalval, 1717.



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