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Zweiundfünfzigster Brief.
Rica an Usbek in ***.

Neulich habe ich mich in einer Gesellschaft sehr gut unterhalten. Frauen von jedem Alter waren zugegen, eine von achtzig Jahren, eine von sechzig und eine von vierzig. Die letztere war von einer zwanzig- bis zweiundzwanzigjährigen Nichte begleitet. Aus einem gewissen Instinkt näherte ich mich dieser Jüngsten, und sie flüsterte mir ins Ohr: »Wie kommt Ihnen denn meine Tante vor, die in ihrem Alter sich noch nach Liebhabern umschaut und die Schöne spielt?« – »Sie thut Unrecht daran,« erwiderte ich ihr; »denn so etwas kommt nur Ihnen zu.« – Bald darauf stand ich bei ihrer Tante, und sie sagte zu mir: »Was denken Sie nur von jener Frau dort? Sie ist wenigstens sechzig Jahre alt; aber sie hat heute über eine Stunde auf ihren Putz verwendet.« – »O, sie hat ihre Zeit verloren,« gab ich ihr zur Antwort. »Man müßte Ihre Reize besitzen, um ein Recht dazu zu haben.« – Ich trat darauf zu der armen Sechzigjährigen und bedauerte sie in meiner Seele. Aber sie flüsterte mir zu: »Giebt es etwas Lächerlicheres? Sehen Sie jene achtzigjährige Alte, die sich noch mit feuerroten Bändern behängt? Sie will die Jugendliche spielen und es gelingt ihr auch; denn dieser Aufputz streift ans Kindische« – »Guter Gott,« mußte ich denken, »werden wir denn immer nur die Lächerlichkeiten der anderen herausfinden? Aber vielleicht ist es ein Glück,« schloß ich meine Betrachtung, »daß uns fremde Schwächen Trost gewähren.« Indessen, da ich einmal im Zuge der Unterhaltung war, so sprach ich zu mir: »Habe ich vorher von unten angefangen, so will ich jetzt einmal abwärts steigen und mit der Alten beginnen, die auf dem Gipfel ist.« – »Madame,« redete ich sie an, »Sie sehen jener Dame, mit der ich soeben im Gespräche war, so ähnlich, daß man Sie für zwei Schwestern halten möchte. Gewiß stehen Sie Beide in dem nämlichen Alter.« – »Freilich, es ist wie Sie sagen, mein Herr,« lautete ihre Antwort, »Wenn die eine von uns stirbt, wird die andre zittern müssen; ich glaube, daß der Unterschied unseres Alters kaum zwei Tage beträgt.« – Als ich diese abgelebte Greisin gefangen hatte, ging ich zu der Sechzigjährigen. »Madame, Sie müssen eine Wette entscheiden, die ich gemacht habe. Nach meiner Behauptung stehen Sie mit jener Dame (hier wies ich auf die Vierzigjährige) in dem nämlichen Alter.« – »Meiner Treu,« versetzte sie, »ich glaube kaum, daß der Unterschied sechs Monate beträgt.« Gut, so weit stimmts; also nun weiter! Wieder stieg ich eine Staffel abwärts und gelangte nun zu der Vierzigerin. »Madame, sagen Sie mir doch gefälligst, ob es ein Scherz ist, wenn Sie jenes Fräulein dort am andern Tische Ihre Nichte nennen! Sie sind ja ebenso jung wie sie, und es liegt sogar etwas Abgeblühtes in ihren Zügen, wovon man bei Ihnen gewiß keine Spur entdeckt. Und wie frisch sind zudem Ihre Farben!« – »Sie haben ganz Recht,« unterbrach sie mich. »Allerdings bin ich ihre Tante; aber ihre Mutter war wenigstens fünfundzwanzig Jahre älter als ich; wir waren nicht aus derselben Ehe. Ich habe meine selige Schwester sagen hören, ich sei mit ihrer Tochter in einem Jahre geboren.« – »Das dachte ich mir wohl, Madame; ich bin also ganz mit Recht verwundert gewesen.«

Mein lieber Usbek, wenn die Frauen an dem Schwinden ihrer Reize merken, daß ihre Zeit bald vorüber ist, so möchten sie sich gern wieder jung machen. Und wie sollten sie auch nicht den Wunsch haben, andre zu täuschen? Suchen sie sich doch unablässig selbst zu betrügen, um dem traurigsten aller Gedanken zu entfliehen!

Paris, am 3. des Mondes Chalval, 1713.



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