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Hundertundsiebenundzwanzigster Brief.
Rica an Usbek in ***.

Morgen erwarte ich Deine Rückkehr; indessen sende ich Dir Deine Briefe aus Ispahan. Aus den meinigen ersehe ich, daß der Gesandte des Großmoguls Befehl erhalten hat, das Reich zu verlassen. Man theilt mir ferner mit, daß der Prinz, der Oheim des Königs, dem die Erziehung des letzteren oblag, verhaftet worden sei. Man, soll ihn in ein Schloß gebracht haben, wo er sehr streng bewacht wird; auch wurde er aller seiner Ehren verlustig erklärt. Das Schicksal dieses Prinzen erregt mein Mitgefühl, und ich beklage ihn.

Ich gestehe Dir, Usbek, ich konnte nie jemandes Thränen fließen sehen, ohne dadurch gerührt zu werden. Ich empfinde menschliche Sympathie mit den Unglücklichen, als ob sie die einzigen Menschen wären; und selbst die Großen, für welche ich in meinem Herzen nur Kälte verspüre, solange sie hochstehen, liebe ich, sobald sie gefallen sind.

Was hülfe ihnen auch im Glücke eine nutzlose Zärtlichkeit? Sie ist zu eng mit der Gleichheit verwandt; sie aber ziehen die Ehrerbietung vor, welche keine Erwiderung fordert. Sobald sie aber einmal von ihrer Höhe herabgesunken, können nur noch unsere Klagen ihnen dieselbe vergegenwärtigen.

Es scheint mir ein Zug von Naivetät und selbst von Größe aus den Worten jenes Fürsten zu sprechen, der vor dem unvermeidlichen Schicksal stand, in die Hände seiner Feinde zu fallen. Als er sah, wie seine Höflinge rings um ihn weinten, sagte er: »Ich fühle an euren Thränen, daß ich noch euer König bin.«

Paris, am 3. des Mondes Chalval, 1718.



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