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Hundertundsiebzehnter Brief.
Usbek an denselben.

Bisher haben wir nur von den muhamedanischen Ländern gesprochen und nach der Ursache geforscht, warum sie weniger bevölkert sind, als es die unter römischer Botmäßigkeit stehenden waren. Untersuchen wir nunmehr, woraus sich bei den Christen die nämliche Wirkung herleiten läßt.

Die Ehescheidung war von der heidnischen Religion gestattet; den Christen dagegen wurde sie verboten. Im Anfang schien es, als habe diese Veränderung nur wenig zu bedeuten; aber ganz unmerklich entwickelten sich daraus schreckliche und fast unglaubliche Folgen.

Man raubte der Ehe durch dies Verbot nicht allein alles, was sie angenehm macht, sondern man vereitelte auch ihren Zweck. Indem man sie unauflöslich binden wollte, lockerte man sie; und anstatt die Herzen zu vereinigen, wie man es im Sinne hatte, trennte man sie für immer. Diese Gedanken über die Ehescheidung hat Montesquieu von Montaigne entlehnt, dem er sich selbst im Ausdruck anschließt. Es heißt daselbst (Essais, II, XV): »Wir haben das Band unserer Ehen fester zu knüpfen gemeint, indem wir jedes Mittel entfernten, sie zu lösen, aber das Band des Willens und der Liebe hat sich destomehr aufgelöst und gelockert, je fester sich das des Zwanges zog. Umgekehrt sie war in Rom gerade das, was die Ehen so lange in Ehren und Sicherheit erhielt, die Freiheit, sie abzubrechen, sobald man wollte. Sie bewahrten sich ihre Frauen um so besser, als sie sie verlieren konnten; und bei voller Freiheit der Scheidung verstrichen fünfhundert Jahre und mehr, ehe sich jemand derselben bediente. (Valer. Max., II, 1, 4.) – Wie wenig Einfluß diese Stimmen in Frankreich hatten, konnte der lange Kampf beweisen, den Naquet für seinen Gesetzantrag bestehen mußte. Selbst Comte, der Begründer der positiven Philosophie, in dessen Geiste die freiste Humanität so seltsam mit eingerosteten Vorurteilen verschmolzen war, hält es für wesentlich zur Erfüllung des höchsten Zweckes der Ehe, daß sie unauflöslich sei. (Politique Positive, I, IV.) In England hatte Milton schon im Jahre 1644 die Ehescheidung verteidigt (The Doctrine and Discipline of Divorce). Dagegen sprach sich Hume für die Untrennbarkeit aus (Of Polygamy and Divorces). Wir mögen hier noch erwähnen, daß der Marschall von Sachsen im Interesse der Volksvermehrung den Vorschlag machte, die Ehen sollten immer nur auf fünf Jahre geschlossen werden. (Rêveries de Maurice, 345.)

Ein Verhältnis, das so frei sein, und an welchem das Herz so großen Anteil haben sollte, unterwarf man dem Zwange, der Notwendigkeit und selbst dem blinden Spiel des Zufalls. Man rechnete den Widerwillen, die Launen und die unverträgliche Gemütsart für nichts; das Herz, das wankelmütigste und unbeständigste Ding in der Natur, wollte man unveränderlich machen; Menschen, die sich gegenseitig zur Last und fast immer schlecht für einander geschickt sind, schmiedete man unwiderruflich und hoffnungslos zusammen; kurz, man machte es wie jene Tyrannen, welche lebendige Menschen an Leichname binden ließen.

Durch nichts wurde die wechselseitige Zuneigung so sehr befördert, als durch die Möglichkeit der Ehescheidung. Mann und Weib trugen ihr Hauskreuz in Geduld, weil sie wußten, daß es ihnen frei stand, demselben ein Ende zu machen; und oft hielten sie diese Macht ihr Leben lang in Händen, ohne sich ihrer zu bedienen, einzig, weil sie wußten, daß nichts sie daran verhindern konnte.

Ganz anders steht es dagegen bei den Christen. Ihre gegenwärtigen Leiden bewirken, daß sie an der Zukunft verzweifeln; an dem ehelichen Verdruß sehen sie nur die Dauer und, so zu sagen, die Ewigkeit. Daraus erwächst der Widerwille, die Zwietracht, die Verachtung, und dies alles zum Schaden der Nachkommenschaft. Kaum ist man drei Jahre verheiratet, so vernachlässigt man schon den eigentlichen Zweck der Ehe, um dreißig Jahre in Kälte neben einander hinzuschleppen. Es entstehen verborgene Zerwürfnisse, die ebenso stark und vielleicht noch verderblicher sind, als wenn sie öffentlich wären; beide Teile führen ein Sonderleben, und der Nachteil trifft die künftigen Geschlechter. Bald wird ein Mann seiner ewigen Frau überdrüssig und wirft sich Freudenmädchen in die Arme; und doch ist dieser Verkehr so schimpflich und den Absichten der Gesellschaft so widersprechend; denn ohne den Zweck der Ehe zu erfüllen, gewährt er höchstens ihre Wollust.

Wenn von zwei auf solche Weise an einander gefesselten Personen die eine durch Temperament oder hohes Alter zur Ausübung der natürlichen Bestimmung und zur Fortpflanzung der Gattung untauglich ist, so begräbt sie die andere mit sich und macht sie ebenso unbrauchbar, wie sie es selbst ist.

Gar nicht verwunderlich ist es daher, daß bei den Christen so viele Ehen nur eine so geringe Zahl von Bürgern erzeugen. Die Scheidung ist abgeschafft; unglückliche Verbindungen lassen sich nicht wieder gut machen; und während bei den Römern die Frauen nach einander in die Hände mehrerer Ehemänner übergingen, Wenn man sich auf Martials Spott über die lex Julia verlassen dürfte, so hätte eine Römerin zehn Männer in einem Monat gehabt:
Aut minus, aut certe non plus tricesima lux est,
Et nubit decimo jam Talesilla viro.
(Epigr. VI, 7.)

Wahrscheinlicher ist, was uns von einer Frau berichtet wird, die in fünf Jahren achtmal verheiratet war:
Sic crescit numerus, sic fiunt octo mariti
Quinque per autumnos.
(Juvenal. Satir. VI. 229)
welche während dieses Umlaufs den bestmöglichen Nutzen aus denselben zogen, hat dies nun alles aufgehört.

Ich möchte die Behauptung aufstellen: Hätten in einer Republik wie Lacedämon, wo den Bürgern durch sonderbare und spitzfindige Gesetze ein unaufhörlicher Zwang aufgelegt war, und wo es nur eine Familie gab, nämlich die Republik, die Männer alljährlich ihre Frauen unter einander austauschen dürfen: so würde die Zahl der Bevölkerung bis ins Unzählbare gestiegen sein.

Es läßt sich schwer begreifen, wodurch sich die Christen zur Abschaffung der Ehescheidung veranlaßt gesehen haben. Bei allen Nationen der Welt ist die Ehe ein mit allerlei einschränkenden Bedingungen verträgliches Übereinkommen; nur was den Zweck derselben gefährden könnte, ist unzulässig.

Die Christen aber betrachten sie aus einem ganz anderen Gesichtspunkte, und es wird ihnen schwer, eine zulängliche Erklärung davon zu geben. Nach ihrer Auffassung soll sie nicht im sinnlichen Genusse bestehen; es scheint im Gegenteil, wie ich Dir bereits gesagt habe, als wollten sie diesen so viel wie möglich daraus verbannen. Sie gilt ihnen als etwas Bildliches, als ein Gleichnis, als etwas Mysteriöses, In der katholischen Kirche ist die Ehe ein Sakrament. das mir unverständlich ist.

Paris, am 19. des Mondes Chahban, 1718.



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