Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Leo Tolstoi an seine Frau Anastasia

Gouvernement Pensa, September 1869.

Wie geht es Dir und den Kindern? Es ist doch nichts passiert? Ich bin schon zwei Tage von quälender Unruhe erfüllt. Vorgestern übernachtete ich in Arsamas und erlebte dort etwas ganz Ungewöhnliches. Es war zwei Uhr nachts. Ich war furchtbar müde und wollte nur einschlafen. Plötzlich wurde ich von solcher Sehnsucht, Furcht und einem solchen Entsetzen ergriffen wie nie zuvor. Die Einzelheiten dieses Zustandes will ich Dir in der Folge schildern, genug, solch qualvolles Gefühl habe ich noch nie verspürt, und Gott gebe, daß niemand es verspürt. Ich sprang auf und ließ anspannen. Während das geschah, schlief ich wieder ein und erwachte vollkommen gesund. Gestern während der Fahrt kehrte dieses Gefühl, doch in weit schwächerem Maße wieder, aber ich war schon darauf vorbereitet und unterwarf mich ihm nicht, besonders da es weit schwächer auftrat. Heute fühle ich mich wieder gesund und munter, soweit mir das, fern von den Meinen, möglich ist. Während dieser Reise habe ich zum ersten Male gefühlt, wie sehr Du und die Kinder mir ans Herz gewachsen sind. Bei einer ständigen Beschäftigung kann ich ganz gut allein sein, wie das in Moskau der Fall ist, aber so wie jetzt, wo ich keine Beschäftigung habe, fühle ich, daß ich das Alleinsein nicht ertragen kann.

Vom Dampfschiff auf der Fahrt nach Samara, 1878.

... Wie Du Dich auch entscheiden magst, ob Du bleibst oder reisest, was sich auch unabhängig von unserem Willen ereignen sollte, vergiß nicht, daß ich nie, selbst in Gedanken nicht, weder Dir noch mir Vorwürfe mache. Alles wird kommen, wie Gott will, ausgenommen unsere guten oder bösen Handlungen. Sei mir nicht böse, wie Du zuweilen bist, wenn ich den Namen Gottes erwähne, ich konnte dieses Wort nicht vermeiden, da es die Grundlage meines Denkens bildet ...

Ich schreibe Dir wieder abends, von demselben Dampfer aus. Die Kinder sind gesund und artig und schlafen jetzt. Es ist zehn Uhr abends; wenn Gott will, sind wir morgen früh um vier Uhr in Samara und am Abend auf dem Landgut. Der Tag ist ruhig, angenehm und beschaulich verflossen. Besonders interessant war für mich die Unterhaltung mit Sektierern aus dem Gouvernement Wjatka, sogenannten Bespopowzen; es sind Bauern, Kaufleute und sehr anständige, einfache, kluge und ernste Menschen. Wir hatten ein prachtvolles Gespräch über den Glauben.

Den 11. Juli 1881.

Der Hinweg war schlimmer, als ich gedacht. Ich habe mir die Füße wundgelaufen, etwas geschlafen und fühle mich jetzt über Erwarten wohl. Hier habe ich mir Bastschuhe gekauft, in denen es sich leichter geht. Eine solche Reise ist angenehm, nützlich und sehr lehrreich. Gebe Gott uns ein gesundes Wiedersehen mit der ganzen Familie, und verhüte er, daß weder Dir noch mir etwas Schlimmes widerfährt, dann werde ich den Weg niemals bereuen.

Man kann sich keinen Begriff davon machen, wie neu, wichtig und nützlich für den inneren Menschen (für die Lebensanschauung) so ein Blick auf die große, wirkliche Gotteswelt ist, nicht diejenige, die wir eingerichtet haben, und aus der wir nicht herauskommen, selbst wenn wir die ganze Erde bereisen. Dimitri Fjodorowitsch [der Lehrer in Jaßnaja Poljana] geht bis Optina mit mir. Ein stiller, gefälliger Mann. Wir haben in Seliwanow bei einem reichen Bauern, früheren Ortsvorsteher und Pächter, übernachtet. Ich schreibe Dir aus Odojew und aus Bjelew. Ich nehme mich sehr in acht und habe mir heute Feigen für meinen Magen gekauft. Wenn Du gestern im Nachtquartier das Mädchen in Mischas Alter gesehen hättest, würdest Du Dich in sie verliebt haben: sie sagt nichts, versteht aber alles, lächelt fortwährend, und niemand gibt auf sie acht. Die Hauptsache ist das neue Gefühl – die Erkenntnis, daß man sich vor sich selbst und anderen als der fühlt, der man ist, und nicht als das Wesen, das man mit seiner Umgebung zusammen bedeutet. Heute überholte uns ein Bauer in seinem Wagen: »Na, Alter, wohin des Wegs?« – »Nach Optina.« – »Bleibst du auch da?« – und so beginnt die Unterhaltung.

Wenn Dir nur die großen und kleinen Kinder keine Unruhe machen; wenn nur kein lästiger Besuch kommt; wenn Du Dich nur wohl fühlst; wenn nur nichts passiert; wenn nur ... ich lauter Gutes tue und Du ebenfalls, dann wird alles gut.

Oktober 1881.

... Ich habe etwas sehr Schweres vor: ich will mich mit der Wirtschaft befassen, d. h. nicht eigentlich mit der Wirtschaft, sondern will Verkehr mit den Leuten im Hause pflegen. Es ist schwer, sich nicht hinreißen zu lassen und seine Beziehungen zu den Menschen nicht der Arbeit zu opfern; man muß das aber, um die Wirtschaft zu führen. Jedesmal, wenn die Frage auftaucht, was man vorziehen soll: persönliche Vorteile oder das Verhältnis zu andern Menschen? – muß man das letztere wählen. Ich bin so schlecht, daß ich meine Unfähigkeit dazu fühle. Es hat sich aber so gemacht, daß Zwang vorliegt, da versuche ich es eben ...

Heute habe ich mich mit der Wirtschaft beschäftigt und bin dann ausgeritten. Die Hunde sind mir sehr zugetan. Agafa Michailowna sagte: ohne Koppel würden sie sich auf das Vieh stürzen, und schickte Waska mit. Ich wollte meine Jagdleidenschaft erproben, reiten und nach vierzigjähriger Gewohnheit Wild aufspüren – sehr schön. Sprang aber ein Hase auf, so wünschte ich ihm viel Glück. Hauptsächlich schämte ich mich ...

Ich kann nicht anders, mein Herzlieb, sei nicht böse, aber ich vermag diesen Geldgeschichten keine Bedeutung beizumessen. Es sind ja keine wichtigen Ereignisse, wie zum Beispiel Krankheit, Ehe, Geburt, Tod, erworbenes Wissen, schlechte oder gute Handlungen, angenehme oder unangenehme Gewohnheiten uns teurer und nahestehender Menschen, sondern es sind unsere Formen, Einrichtungen, die wir so eingerichtet haben, aber auch auf tausend andere Arten einrichten können. Ich weiß, daß das, was ich hier sage, für Dich oft und für die Kinder unerträglich langweilig ist (ich glaube, das ist genügend bekannt), ich muß aber stets wiederholen, daß unser aller Glück oder Unglück nicht um Haaresbreite davon abhängt, ob wir Geld ausgeben oder einnehmen, sondern nur davon, was wir selbst sind. Hinterlasse Kostja eine Million – wird er dadurch glücklicher? Damit die Sache nicht trivial wird, muß man das Leben wirklich etwas freier und unbefangener ansehen. Wie unser beider Leben mit seinem Kummer und seinen Freuden verläuft, so wird tatsächlich das Leben unserer Kinder; deswegen müssen wir ihnen helfen, das zu erlangen, was uns glücklich gemacht hat, und sich von dem zu befreien, was uns Unglück brachte. Sprachen, Diplome, die Welt, besonders aber Geld, haben an unserem Glück und Unglück keinen Anteil gehabt. Deswegen kann die Frage, wieviel wir ausgeben, mich nicht interessieren; mißt man ihr besondere Wichtigkeit bei, so verdrängt sie das, was die Hauptsache ist.

*


 << zurück weiter >>