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Denis Diderot an Sophie Voland

Grandval, den 1. November 1759.

... Seit dem Morgen höre ich Arbeiter unter meinem Fenster. Kaum dämmert der Tag, so haben sie den Spaten zur Hand, sie schaufeln die Erde und schieben den Karren. Sie essen ein Stück schwarzes Brot, sie löschen ihren Durst am rinnenden Bache; mittags schlafen sie eine Stunde auf nackter Erde; bald nehmen sie die Arbeit wieder auf. Sie sind fröhlich, sie singen, sie rufen sich grobe Scherze zu, die sie erheitern, sie lachen. Am Abend finden sie ihre nackten Kinder um einen rauchenden Herd, eine abschreckende und unsaubere Bäuerin, ein Bett aus getrockneter Streu, und doch ist ihr Schicksal weder schlechter noch besser als das meine. Sagen Sie mir, die Sie manches Geschick erduldet haben, scheint Ihnen die Gegenwart härter als die Vergangenheit? – – Ich quäle mich schon den ganzen Morgen damit, einem Gedanken nachzujagen, der mir entschlüpft. Ich war traurig heruntergekommen und hörte von den allgemeinen Übelständen sprechen. Ich setzte mich ohne Appetit an einen prunkvollen Tisch, mein Magen war noch von dem gestrigen Essen überladen, und überlud ihn mit neuem Essen; ich nahm einen Stock und ging spazieren, um zu verdauen und mich freier zu fühlen, kam wieder und täuschte am Spieltisch drückende Stunden hinweg. Ich hatte einen Freund, von dem ich nichts hörte. Ich war fern von der Freundin, zu der ich mich sehnte. Sorgen auf dem Lande, Sorgen in der Stadt, Sorgen überall. Der, der die Sorge nicht kennt, zählt nicht unter die Menschenkinder. Alles hebt sich auf, das Gute durch das Übel, das Übel durch das Gute, und das Leben ist eitel. –

Vielleicht fahren wir morgen abend oder Montag morgen auf einen Tag in die Stadt. Ich werde die Freundin sehen, nach der ich mich sehnte, und werde den schweigsamen Freund wiederfinden, von dem ich nichts hörte. Aber ich werde sie am nächsten Tag wieder verlieren, und je mehr ich das Glück, ihnen nahe zu sein, fühlte, um so mehr werde ich unter der Trennung leiden.

So geht es immer. Drehen, wenden Sie sich, wie Sie wollen, überall findet sich ein gerolltes Rosenblatt, das Sie verletzt. – Ich liebe meine Sophie, die Zärtlichkeit für sie schwächt meine Augen für jedes andere Interesse. Ich sehe nur ein Unglück, das mich auf der Welt treffen könnte; aber dieses Unglück vervielfältigt sich und stellt sich mir in hundert Bildern dar. Vergeht ein Tag, ohne daß sie mir schreibt, »was ist ihr, könnte sie krank sein?« Und da schwirren die Schimären um meinen Kopf und quälen mich. Hat sie mir geschrieben, so verstehe ich ein gleichgültiges Wort falsch und werde verrückt. Der Mensch kann sein Schicksal weder verbessern noch verschlimmern. Sein Glück und sein Unglück sind ihm durch ein mächtiges Gestirn vorgeschrieben. Je mehr Liebes, um so weniger Gefühl für jedes Einzelne. Ein einziges Liebes, und alles Gefühl wird darauf versammelt. Es ist der Schatz des Geizhalses. –

Aber ich merke, daß ich schlecht verdaue, und all diese traurige Philosophie kommt von einem verdorbenen Magen. Aber ob mit überladenem oder nüchternem Magen, ob melancholisch oder heiter, ich liebe Sie, meine Sophie, immer gleich, nur die Färbung des Gefühls ist nicht dieselbe ...

[Grandval, den 15.-20. Oktober 1760.]

... Jetzt ist ein furchtbares Gewitter, mit Regen, Hagel und Schnee vermischt, und inmitten dieses Gewitters kommt eine ganze Karawane aus Sussy zu uns. Es sind etwa zehn oder zwölf, so dumm als lang. Der erste Augenblick war sehr geräuschvoll, aber nachdem die Liebkosungen, mit denen Frauen und Hunde sich zu überschütten pflegen, wenn sie sich wiedersehen, vorüber waren, hat man sich beruhigt und über tausend gleichgültige Dinge geplaudert. Beim Gespräch über Einkäufe und Möbel sagte der Baron, er bemerke die Verderbtheit unserer Sitten und den verminderten Geschmack der Nation auch an der Menge von Geheimmöbeln jeder Art. Ich dagegen sagte, ich sähe darin nur eins, daß man sich ebensosehr wie früher liebe und es sich ein wenig mehr zu schreiben pflege. Ein Fräulein d'Ette, früher schön wie ein Engel, der aber nichts übriggeblieben ist als der Geist eines Sprühteufelchens, antwortete: um sich wirklich zu lieben, sei man jetzt viel zu zerstreut. Ich erwiderte, früher trank man mehr als jetzt, man spielte nicht weniger, man jagte, ritt, schoß, übte sich im Ballspiel, lebte in der Familie, hatte einen kleinen Kreis, besuchte das Wirtshaus, ließ junge Leute in guter Gesellschaft nicht zu, die jungen Mädchen lebten fast klösterlich, auch die Mütter sah man kaum, die Männer waren auf der einen, die Frauen auf der andern Seite. Jetzt lebt man vermischt, läßt einen jungen Menschen von achtzehn Jahren zur Gesellschaft zu, spielt aus Langeweile, wohnt getrennt, die Kinder schlafen zusammen in einem Zimmer, die größeren haben jedes sein besonderes Zimmer; das Leben ist in zwei Beschäftigungen geteilt, die Galanterie und den Beruf. Man ist in seinem Zimmer oder in seinem Häuschen entweder mit seinen Klienten oder mit seiner Geliebten. Denken Sie nur, eine Nation würde plötzlich von einer allgemeinen Neigung zur Musik ergriffen, sicherlich hätte man nie vorher soviel schlechte Kompositionen gemacht, soviel falsch gesungen, soviel schlecht gespielt, aber dafür würden auch alle, die Talent für die Komposition oder für die Ausführung hätten, dazu veranlaßt werden, es zu zeigen; nie vorher hätte man so gut musizieren gehört, nie so gut singen, niemals soviel schöne Weisen ersonnen. Nun die Nutzanwendung. Da der Geist der Galanterie allgemein ist, gibt es heute vielleicht mehr Schlüpfrigkeit, mehr Falschheit, mehr Sittenlosigkeit als je vorher; aber es gibt auch mehr Verläßlichkeit, mehr Aufrichtigkeit, mehr ehrliche Zuneigung, mehr Liebe, mehr Zartheit, mehr dauerhafte Leidenschaft als in früheren Zeiten. Die dafür geboren sind, herzlich zu lieben und herzlich geliebt zu werden, lieben herzlich und werden herzlich geliebt. So wird es sich auch bei jeder anderen Sache verhalten, je mehr Leute sich damit befassen werden, um so mehr wird es geben, die sie gut, um so mehr, die sie schlecht machen. Wenn der Gesetzgeber ein Gesetz erläßt, was geschieht? Er gibt fünfzig Schlechten die Gelegenheit, es zu übertreten, und zehn Guten, es getreulich zu beobachten. Die zehn Guten werden dadurch ein wenig besser, die fünfzig Schlechten ein wenig schlechter werden, und das Menschengeschlecht wird ein wenig mehr Tadel und ein wenig mehr Lob verdienen. Einem Volke Gesetze geben, das bedeutet, seine Energie für das Gute und das Böse erhöhen, das heißt, wenn man es aussprechen darf, es zu großen Verbrechen und zu großen Tugenden ermutigen ... Denken Sie, es gäbe unter uns einen Mann, der gewagt hätte, das Leben seines Fürsten anzugreifen, man hätte ihn ergriffen und ihn dazu verurteilt, mit eisernen Zangen gezwickt, mit kochendem Metall begossen, in glühendes Pech getaucht, auf die Folterbank gespannt, von Pferden zerrissen zu werden. Man hätte ihm den furchtbaren Urteilsspruch vorgelesen, er hätte ihn angehört und darauf kalt gesagt: »Der Tag wird hart werden«; sofort würde ich mir einbilden, es müsse auch neben mir eine Seele vom Schlage des Regulus atmen, der, wenn es ein großes allgemeines oder persönliches Interesse forderte, ohne zu erbleichen, in die mit Nägeln bespickte Tonne einträte. Wie denn! Das Verbrechen sollte eines Enthusiasmus fähig sein, den die Tugend nicht erreichen könnte? Gibt es nicht vielmehr nur etwas auf der Welt, nämlich die Tugend, die einen wahrhaften und dauernden Enthusiasmus einflößen kann? Unter dem Namen der Tugend verstehe ich, wie Sie wohl begreifen, den Ruhm, die Liebe, den Patriotismus, in einem Wort, alle Motive großer und großmütiger Seelen. Übrigens werden möglicherweise die zu kühnen Unternehmungen gestimmten Menschen nur durch von ihnen gar nicht abhängige Ursachen, der eine auf die Seite der Ehre, der andere auf die Seite der Schande geworfen. Wer bereitet uns unser Schicksal? Wer erforscht die Zukunft? ...

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