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Léon Gambetta an Léonie Léon

Den 21. Dezember 1873.

Mein teures, geliebtes Liebchen! Quäle Dich doch nicht weiter und lästere Deine Armut. Ich vermag Dir gar nicht zu sagen, wie sehr ich glücklich und von Deinen ungerechten Selbstvorwürfen gerührt bin. Wie Du bald ernst, bald begeistert und bald heiter ohne Zwang und falsche Scham bist! So und nicht anders wollte ich Dich, so erträumte ich Dich als ein echtes Weib, starken Herzens und starken Sinnes und über die Aufregungen des Lebens und seine Zufälle erhaben. Die schrecklichen Zustände, die Dich befallen, belehren mich, so fürchterlich sie auch sind, und so grausam sie mich selber treffen, doch deutlich und tröstend darüber, daß ich keine bessere Wahl treffen konnte, und daß die Erwählte meines Herzens die mutige, unentbehrliche Gefährtin meines schwankenden Lebens ist. Du kannst Deinen ungeheueren Irrtum daran ermessen; was Dich erschreckt, macht mich gerade froh: die erste Standhaftigkeit, die Du in allen Lebenskämpfen bewährst, zieht mich mit einem eigenen Reiz an, verbindet mich und fesselt mich unauflöslich an Dein ganzes Wesen. Und dann soll man nicht fröhlich sein wollen? Die Fröhlichkeit muß von selbst kommen, aus der Seele sprudeln, sie ist nur dann gut und gesund, wenn sie durch heitere Lebensumstände erzeugt ist. Nur selten kann man sie in dieser traurigen Zeit anlegen. Das Vaterland im Innern zerrissen und erniedrigt, von außen verstümmelt und vielleicht aufs neue bedroht, dürfte von uns Rechenschaft für eine verbrecherische, unzeitgemäße Freude fordern. Die Zeit dauernder Lustigkeit ist auf lange vorbei: es ist Trauer, die Dich in meiner Seele mit jener gleichen Zärtlichkeit für mein Weib und mein Vaterland umfassen: daß euer Unglück dasselbe ist.

Aber ich zähle darauf, daß Du wenigstens bald keinen Kummer mehr zu erfahren hast: allein das unglückliche Vaterland, ich sehe es mit unerträglicher Pein und Angst in ein neues Jahr eingehen: wir sind schlecht angeführt, schlecht geleitet und stehen im Kampf mit furchtbaren beutegierigen Deutschen.

Ich zittere, daß das Jahr des Schreckens nochmals anheben kann, daß die Macht sich wieder gegen den einfallenden Gegner zu wehren hat, daß das Heer wiederaufgelöst, das Land noch tiefer niedergeschlagen, Europa sklavischer denn je sein wird. Deutlich gesprochen, ich zittere für das, was von Frankreich noch übriggeblieben ist. Doch genug geschrieben. Komme, mich Montag zu besuchen.

Ich liebe Dich und küsse Dich schön!

Den 26. Oktober 1876.

Teuerstes, geliebtes Liebchen! Nachdem Du fort warst, habe ich den Schlaf und mit ihm die Träume wiedergefunden. Ich stand trotzdem sehr zeitig auf, um einen Blick auf die in Deiner Gegenwart entworfene peinliche Rede zu werfen. Ich fühle eine Art trübseliger Verlegenheit, die Gedanken strömen mir zu; ihre Entwicklungen häufen sich in meinem Kopf aufeinander, nur die Ordnung und Klarheit fehlen.

Man könnte es so erklären, daß ich fern von dem erwärmenden Zuhörer nichts schaffen kann. Ich finde so, wie mir scheint, nichts als Gemeinplätze, nichts als unbestimmte Gewöhnlichkeit, ich lasse das Geschäft fahren und verlasse mich lieber auf den glücklichen Augenblick. Komme es, wie es wolle ...

Was für einen Beruf übe ich doch aus! Bevor ich handeln darf, muß ich mir erst das Recht erwerben, Vernunft und Gerechtigkeit über den Ansturm des Gewalttätigen siegen zu lassen! Ich muß dem Verdacht der einen begegnen, die Verunglimpfungen oder Erpressungen der anderen mattsetzen und alle betrügen, um ihnen besser nützlich sein zu können! Zum Glück bleibt mir die Zuversicht in meinem Gewissen, daß ich nicht besser vorgehen konnte.

Wessen Wille ist es denn eigentlich, daß die Wahrheit in der Welt nicht nackt vorwärtskommt? Des gebieterischesten aller Willen: jenes menschlichen Bedürfnisses, nur verführt oder durch Zwang zu folgen.

Doch genug von Menschen schlecht gesprochen! Ich kehr' zu Dir zurück, und ich drücke Dich in meine Arme.

Deine Berührung gibt mir selbst in der Einbildung Kraft und Mut.

Viele Küsse, mein süßer Trost, laß mich zu Deinen Füßen liegen!

Gambetta.

*


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